24 Dezember 2018

Feelin' blue, aber in schön

Der heutige Tag ist ein Paradebeispiel dafür, dass man die englische Redewendung "I'm feelin' blue" auch sehr positiv interpretieren kann. Nach zwei Überraschungsbesuchen von lieben Freunden, einmal morgens, einmal nachmittags, nach dem Genuss einer leckeren Paella und - was darf nicht fehlen? - einem leckeren Espresso aus der Lavazza-Blue-Tasse sitze ich hier in meinem eigenen Zuhause vor der schönsten blau-weißen Tasche der Welt und könnte alle und jeden umarmen. Hach!

Blue, blue, blue ...

Als mein Brüderchen mir heute ein Foto von seinem Besuch am Grab der Eltern zusandte, kamen Erinnerungen hoch, an die letzten Heiligabende bei den Oldies, die uns vor ein paar Jahren verlassen haben. Und es fühlt sich gar nicht nach Trauer und Verlust an, sondern nach der schönen Erinnerung an Nudel-, Kartoffelsalat und leckeren Spießbraten vom Ali. An die Bescherung danach, an die leuchtenden Augen des alten Herrn beim Anblick der Olympiasammelalben von 1936 und 1938, der Alben seiner Kindheit, an das glückliche Gesicht unserer Mutter, wenn sie uns von früher erzählte.


Ein Ritual, dass wir uns in den Jahren vorher mühsam erarbeitet hatten. Mühsam, aber erfolgreich. Nach vielen schwierigen, konfliktbeladenen Jahren war es uns gelungen, einen gemeinsamen Weg zu finden, der sich für alle Beteiligten gut anfühlte. Wenn ich bedenke, welche heftigen Auseinandersetzungen wir über Jahrzehnte ausgefochten haben, dann war das eine tolle Leistung von uns allen. Sowohl die Eltern als auch mein Bruder und ich haben uns bewegt, uns zurück genommen, uns bemüht, bis es letztendlich diesen Weg gab.
Und heute noch, wo "der Gerrad" und "ed Friedsche" seit Jahren nicht mehr bei uns sind, kann ich mich mit einem guten Gefühl an die letzten gemeinsamen Heiligabende erinnern. Auch als nach dem plötzlichen Tod unseres Vaters die letzten Jahre mit der eigensinnigen Mutter alles andere als einfach waren, bleibt das gute Gefühl, das wir uns bis zum Schluss um sie gekümmert haben. Wenn ich mir dagegen vorstelle, wie das gewesen wäre, die Eltern ohne Versöhnung verloren zu haben, dann spüre ich sofort, dass ich mir das erst gar nicht vorstellen will. Der Herr wird sie in Frieden ruhen lassen.

22 Dezember 2018

Alter ist relativ

Wenn man, wie ich, auf die 62 zugeht, fühlt man sich innerlich ja nicht wirklich alt. Das hab ich auch von vielen anderen Menschen so oder so ähnlich gehört. Das innere Kind wächst offensichtlich sehr viel langsamer als die äußere Hülle.
Trotzdem gibt es einige Signallampen, die so unübersehbar sind, dass auch mein inneres Kind es höchstens schafft, sie ein wenig an den Rand der bewussten Wahrnehmung zu drängen. Wenn ich z.B. mal wieder die Treppe runter, aus dem Haus raus und nach vorne an den Carport gelaufen bin, und dann dort völlig ahnungslos bin, was ich eigentlich da wollte. Das ist so eine Lampe.
Ok, ist mir auch im Alter von 25 schon mal passiert. Aber seltener. Viel seltener. Und es hatte andere Gründe. Nach einem wochenendlichen Dreitagerennen durch die heimische Kneipenszene war ich schon mal froh, wenn ich meinen Namen noch wusste. Aber heute? Kann ich eigentlich nur was aus dem Auto holen gewollt haben. Sonst ist im Carport nix Nennenswertes zu finden. Ich hab aber gar keinen Autoschlüssel dabei. Komisch. Jetzt ganz ruhig bleiben und logisch denken. Ich schlurfe zurück ins Haus. Wenn ich jetzt den Schlüsselbund hole und wieder zum Auto gehe, wird es mir einfallen. Bestimmt. Gesagt getan. Im Haus dann den Schlüssel suchen.
An seinem Stammplatz im Regal ist er nicht. Hmmmh, den hab ich doch immer nur da oder in der rechten Hosentasche. Ein Griff in die rechte Hosentasche - kein Schlüssel. Aber mein Handy. Was macht das denn in der rechten Tasche? Das ist doch immer in der linken! In der linken Tasche ist - der Schlüsselbund! Ach ja, ist klar, wenn rechts das Handy ist, kann ich den Schlüsselbund nicht auch noch dort einstecken und hab ihn in die linke Tasche getan. Ich wusste doch: Es gibt für alles eine logische Erklärung!
Mit dem Schlüsselbund in der Tasche wieder zurück zum Auto. Hmmh, was will ich denn am Auto? Immer noch keine Ahnung. Und als ich da so stehe, fällt mein Blick zur Straße auf den Briefkasten. Ach ja, ich wollte nach der Post sehen. Aufschließen, nachsehen - nix drin. Ach herrje, wir ham ja Sonntag! Wenigstens klärt sich so alles auf. Aber ich muss mir selbst eingestehen, dass mich die Altersstruddeligkeit doch ein wenig erwischt hat.

 Mir fällt spontan die Szene von letzter Woche ein, als ich am Kassenautomat des Parkhauses fast verzweifelt bin, der Drecksautomat wollte meinen gelben Parkchip nicht akzeptieren, behielt ihn ne Weile ein, rumpelte, machte Stimmen, um ihn dann wieder auszuwerfen. Im dritten Versuch hab ichs dann mit kräftigen Fausthieben versucht. Vergeblich. Auch diesmal spuckte er meinen Chip wieder aus. Meinen gelben EINKAUFSWAGENCHIP! Den hinter mir Wartenden ist es nicht aufgefallen. Ich hab das Teil dann unauffällig gegen den richtigen Chip getauscht, den ein paar Mal an meiner Jeans gerieben und dann "Also, es geht doch!" gesagt, als ich bezahlen konnte. Aber gut, die Chips waren beide gelb, das kann ja dann mal passieren.

Ok, die Häufigkeit solcher oder ähnlicher Vorgänge steigt in den letzten Jahren linear an. Und als ich eben darüber nachdenke und mir endgültig eingestehe "ICH BIN ALT und ich steh dazu!",  schalte ich den Fernseher nach dem Fußballspiel um und erschrecke mich, denn ich bin hier gelandet:

Mutantenball  mit Andy Borg

und singen bumsfallera .....
Und nun weiß ich: Ich bin gar nicht alt! Es gibt noch viele, viele Menschen, die viel, viel älter sind als ich. Darunter sogar einige, die nach mir geboren wurden. Jetzt geht's mir direkt besser.
Ich schalte den Fernseher aus und lege die neue Feelies-CD ein. Schööön!

16 Dezember 2018

Ernie, Staarman und ein alter Bärenknochen

Es waren einmal drei Jungs, die vor langer, langer Zeit im selben Dorf aufwuchsen. Es mag vor 45 Jahren gewesen sein, da begannen die beiden älteren Jungs, abends gemeinsam um die Häuser zu ziehen anstatt brav zum Abendessen am Familientisch zu sitzen. Ernest International und der noch junge Bärenknochen erlebten viele schöne Skatabende, heiße Kickerduelle und spannende Fußballübertragungen. Spätestens, als der Benny-Hill-Klassiker in den SWF3-Top-Ten bei Frank Laufenberg auftauchte, wurde aus Ernie der schnellste Milchmann des Westens, während Bearbone sich mehr anderen Getränken widmete und alsbald die elterliche Höhle und das Dorf verlies.



Längst hatte auch der kleine Bruder des Bärenknochens, der junge Sternenmann, begonnen, seinem großen Bruder nachzueifern und wurde zunehmends häufiger beim Abendessen vermisst. Und so beschritt jeder von ihnen seinen Lebenspfad, der Bärenknochen und der Milchmann verloren sich komplett aus den Augen, nur die Lebenswege der beiden Brüder kreuzten sich immer wieder und sie liefen immer wieder kleine und große Abschnitte zusammen.

Smoking Ernie

Und heute, Jahrzehnte später, laufen alle drei Fäden wieder zusammen. Einer kommt mit dem Bus, einer mit der Bahn und der dritte mit dem Auto und treffen sich am Wochenende in der nahe gelegenen Stadt, um mittags zusammen lecker zu speisen und zu quatschen. Anschließend lassen sie nach einem kleinen Spaziergang im Kulturbackhaus bei Cappuccino, Café Crema und Rauchwaren ihr Treffen ausklingen. Jeder der drei lebte und lebt seinen eigenen Lebensentwurf, jeder ist an einem anderen Wohnort gelandet, aber der Bezug zueinander ist immer noch vorhanden.

Staarman, Oldbearbone und Ernie im Kulturbackhaus

Auch wenn diesmal ein weiterer Dorfjunge leider absagen musste: Die alten Männer sitzen wieder zusammen, ist das nicht wunderbar?


09 Dezember 2018

We are Family

Ich durfte das kürzlich aufgegriffenen Thema "Heimat" am Wochenende um den Begriff "Familie" erweitern. Die große Tochter meiner alten Liebe hatte nach dem schönen Beisammensein anlässlich ihrer Hochzeit Geschmack daran gefunden und angeregt, "so was in der Art" vor Weihnachten vor Weihnachten nochmal zu wiederholen. Eine tolle Idee, für die sie viel Zustimmung erntete. Ihre Mom machte eine beheizte Grillhütte hier in der Nähe klar, Tochter 2 organisierte über Doodle "Wer bringt was mit?" und ruckzuck wurde ein schöner Abend daraus.

Unsere freiwilligen Grillmeister zauberten Würste und Steaks auf den Teller, Salate und Snacks, Kuchen und Mandelpudding, Chips und Nüsse wurden ausreichend mitgebracht. Und auch Bier, Wein, Aperol und Appelschorle flossen reichlich. Als der ein oder andere Aperolspiegel hoch genug war, packte unser musikalischer Leiter die Gitarre aus, seine beiden Töchter gruppierten sich sofort um ihn, und sie sangen - WEIHNACHTSLIEDER! Darauf war ich nicht vorbereitet, die Plätze um unseren Tisch waren schnell zugestellt, das nächste Fenster außerhalb meiner Sprungweite, so hatte ich keine Chance zu entkommen. Das war einer der seltenen Momente, in denen ich mich über meine ausschaltbaren Hörgeräte gefreut habe.

Ein buntes Miteinander

Aber schon nach drei Liedern, die ich nur an den Lippenbewegungen identifizieren konnte, kam der erste Musikwunsch von der Aperolfront am Nachbartisch. So laut, dass "Lady in Black" auch meine tauben Gehörgänge durchdrang. Von da ab wurde es wieder schön. Dass irgendwann derjenige aus der Familienclan, von dem ich es am wenigsten erwartet hatte, seine Vorliebe für "Tief im Westen" äußerte, führte dann zu meinem musikalisch-emotionalen Highlight, auch wenn die Aperolfront das Lied durch ständiges Dazwischenreden und falsche Strophe singen einige Mal verhagelte. Schön war's!

Was mich am meisten berührt hat, war das Gefühl, hier daheim zu sein, dazu zu gehören, mich mit diesen Menschen wohl zu fühlen, auch wenn ich rein genetisch betrachtet bestenfalls eine Beisitzerfunktion auf einer Stabsstelle innehabe. Aber in dieser Familie geht das, kann man sich daheim fühlen. Hier wird der Umfang des Begriffs "Familie" in ungeahnte Weiten gedehnt. Oder, anders ausgedrückt: Mehr Patchwork geht gar nicht.


German Television proudly presents: Die André-Girls!

Mein frühere "Schwiegermutter in spe" war mit mir zusammen nachmittags zur Hütte gefahren, und gemeinsam nahmen wir dann das Vorrecht der beiden Ältesten in der Runde in Anspruch und verabschiedeten uns spätabends, als die Feier noch längst nicht beendet war. So konnten wir uns auch vor dem Aufräumen und Saubermachen drücken, aber solange hätten wir eh nicht mehr durchgehalten. Nach den Bildern zu urteilen, die uns per WhatsApp erreichten, schien es auch noch lustig gewesen zu sein.

Frau Dingdong, Herr Bimbam
 und Frau Pippelpappel (v.l.n.r.)

Heute morgen dann Frühstückstreffen im kleineren Rahmen bei mir. Frau Dingdong und Frau Pippelpappel mit Partnern und die "Schwiegermutter in spe" klingelten bei Herrn Bimbam bescherten dem einen wunderbaren Start in den Tag und nochmal einen Nachschlag zum Thema "Familie". Für mich war es auch die Bestätigung der Erkenntnis, dass meine Heimat und meine Familie dort sind, wo ich mich mit den Menschen verbunden fühle und das Gefühl habe, willkommen zu sein.

Übrigens haben wir gestern Abend auch darüber gesprochen, demnächst zu viert ins Ruhrstadion zu fahren und die Hymne gemeinsam mit fünfzehntausend anderen Menschen zu singen, tief im Westen.


04 Dezember 2018

Heimat

Angeregt durch den blog-Artikel Zeitreise des Herrn gnaddrig tauchten so viele Gedanken und Bilder vor meinem emotionalen Auge auf, dass ich sofort anfangen musste, diese niederzuschreiben.

Wie ist das mit meiner alten Heimat, mit meiner Beziehung zu dem Dorf, in dem ich zur Welt gekommen und aufgewachsen bin? Heute, mit 61, bin ich nun glücklich und zufrieden in meiner Wohn- und Arbeitsstadt im eigenen Häuschen angelangt. Und ab April 2020 wird es nur noch meine Wohnstadt sein. Wie war das alles damals?

Ich fange mal ganz von vorne an. Als kleines Kind ging es mir wie den meisten von uns, das Haus, dann die Straße, dann das Dorf waren die ganze Welt, die ich kannte. Zweifel daran oder Sehnsüchte nach fernen Welten waren mir völlig fremd. Im Haus der Oma geboren, der Hof des Bauernbetriebs war mein Spielzimmer, der Sandkasten im Hof des Nachbarhauses ein zweiter Aufenthaltsort, in dem ich mit dem Nachbarsmädchen, das ein Jahr älter war, spielte und zankte, oder gezankt wurde.
Das Rheinufer war der gefährlichste Spielort, die verbotene Zone, denn da hauste ja die schröckliche Onnermooder (deutsch: Untermutter), die alles verschlang, wenn man ihrem Reich, dem Fluss, zu nahe kam. Das morgendliche Eingesammeltwerden von der Kindergärtnerin, Fräulein Lieselotte, war eine Reise, die zweihundert Meter bis zur Holzbaracke schnell ein gewohnter Pfad. An Ostern das Einsammeln der versteckten Ostereier im Casino-Garten, Distanz einhundert Meter, der einzige Ausflug, an den ich mich in der Zeit erinnere.
Dann mit fünf Jahren der Umzug ins neu gebaute, halb fertige Eigenheim am anderen Ende des Dorfs. Dass dies deshalb geschah, weil es meinen Eltern im großen Bauernhaus mit meinen Großeltern, zwei Geschwistern meiner Mutter, und anderen Bewohnern, die ich schon vergessen hab, zu eng, zu laut, zu hektisch wurde, habe ich damals nicht gewusst. Mein Brüderchen war bereits unterwegs, kam zur Welt, bevor wir einzogen, und verbrachte die erste Zeit im Schlafzimmer meiner Eltern, während ich recht schnell ein eigenes Zimmer bekam.
Neue Freunde lernte ich hier am Ortsrand am Ende einer noch nicht asphaltierten Straße schnell kennen. Der Weg endete in einem Feldweg im wahrsten Sinne des Wortes, danach kamen nur noch Felder. Schräg gegenüber von unserem Haus, neben der alten Scheune, war viel Erde aus den Baugruben der Häuser aufgeschüttet worden. Diese Hügellandschaft war schnell bewachsen mit Sträuchern, Wiese und kleinen Obstbäumen. Für uns waren das die "Apachenberge", unser liebster Spielplatz.
Das Stromern in Feldern und Wäldchen, das Klettern auf Bäume, das war unser Ding den ganzen Sommer über. In der Nachbarschaft gab es fünf Kinder in meinem Alter, weitere fünf ein paar Jahre jünger, wir spielten in unserer eigenen kleinen Welt. Mit der Einschulung kamen dann weitere Kinder hinzu, die Meisten kannte ich bereits aus dem Kindergarten, aber einige waren auch neu zugezogen.
Dass dies mit dem neuen Industriegebiet, das nebenan entstand, zusammenhing, wusste ich damals nicht. Das zog weitere Familien an, hier gab es Arbeit. Einige auf dem Klassenfoto vom zweiten Schuljahr waren nur für zwei oder drei Jahre hier, dann zogen die Familien weiter.
Unser Spielrevier weitete sich aus, die (illegale?) Müllkippe direkt hinter den Feldern und vor den enstehenden Fabriken wurde kurzerhand von den Eltern zur verbotenen Zone erklärt. Ebenso wie zwei Jahre später das Gelände neben dem neu entstehenden Hafen am Rhein, der gerade ausgebaggert wurde. In den Pfützen zwischen den Dreck- und Kohlebergen gab es zu Hunderten Kaulquappen, die uns bei unseren Aufzuchtversuchen im heimischen Garten hinter dem Haus meist jämmerlich verreckten.
Dann mit zehn der Wechsel aufs Gymnasium, in meinen Erinnerungen gegen meinen strikten Willen, weil ich lieber bei meinen Freunden im Dorf bleiben wollte. Jahrzehnte später erklärte mir meine Mutter stets, dass ich das selbst gewollt habe, ich müsse mich wohl irren.
Trotz Gymnasium auf der anderen Rheinseite blieb das Dorf noch meine emotionale Heimat. Erst mit der einsetzenden Pubertät führten Hormone, Suff und Widerwärtigkeit schnell dazu, dass ich unbedingt aus dieser Enge fliehen wollte, dieses spießbürgerliche verheuchelte Drecksnest irgendwann für immer verlassen wollte. Und keinesfalls konnte ich mir damals vorstellen, auch nur annähernd so brav und angepasst wie meine Eltern zu werden. Aber ich musste 23 Jahre alt werden, um den ersten Schritt aus dem Elternhaus zu wagen. Und auch danach blieb "meine" Dorfkneipe "daheim"noch viele Jahre die Stammkneipe, wo ich mich mit den alten Kumpanen am liebsten bematschte. Aber nur zu Besuch. Hier nochmal leben? NIEMALS!
In den nächsten fünf Jahren dann gefühlte sieben Wohnungswechsel, immer in sicherem Abstand rund ums Heimatdorf. Als hätte man mit dem Zirkel einen Kreis drum herum gezogen, auf dem fast alle meiner Behausungen lagen. Dann, nach fünf Jahren, der große Bruch im Leben. Knapp neun Monate Alkoholentzug, danach ein langer Weg zurück in ein halbwegs strukturiertes Leben. Nüchtern war es noch klarer: NIE MEHR würde ich in diese Umgebung zurück wollen, NIE MEHR!

30 Jahre später:
Einige Wochen, nachdem wir unsere Mutter im Familiengrab neben unserem Vater beerdigt hatten, spazierte ich mit meinem Bruder im Anschluss an ein Treffen im Elternhaus über einen der früheren Feldwege, heute begehrte Spazierrouten durch Schrebergärten, Wäldchen und Felder. Früher war das die Route für die ungeliebten Sonntagsspaziergänge mit den Eltern, Nun fühlte es sich seltsam anders an.
Wir trafen an einem Ende des Wegs, kurz bevor man an die Rückseite der alten Tankstelle kommt, einen Klassenkameraden aus der Volksschule mit seiner Frau. Ich freute mich sehr über dieses unverhoffte Wiedersehen und sie liefen ein Stück mit uns. Dann kam uns eine Freundin entgegen, die noch im Ort lebt und die von ihrer Mutter mit dem Rollstuhl geschoben wurde. Sie hat MS. Wir blieben alle zusammen stehen und quatschten. Drei Minuten später kamen ein alter Kumpel und seine Lebensgefährtin mit dem Fahrrad vorbei, blieben auch stehen. So standen wir alle zusammen, blockierten den ganzen Weg und redeten wild durcheinander. Da merkte ich, dass es mich richtig durchströmte, aus der Erde floss ein Strom durch meine Füße und durch meinen ganzen Körper bis in den Kopf. Ich hatte keine Chance, mich dagegen zu wehren. Diese Energie ließ mich spüren:

Hier bist Du daheim, hier gehörst Du hin!


Nach einer Weile löste sich unser Pulk auf und ich ging mit meinem Bruder alleine den Weg zurück bis zum Elternhaus. Ich erzählte ihm, wie es mir gerade gegangen ist, hatte Tränen in den Augen und ich hatte das Gefühl, er versteht es genau, er kennt das. Er war derjenige, der immer zurück ins Dorf wollte, später mal.

Danach gab es viele Pläne, gemeinsam am Elternhaus unsere Zelte aufzuschlagen. Umbauen, Ausbauen, hinten im Garten neu bauen. Leider machte das zuständige Bauamt uns so viele Striche durch alle Rechnungen, dass wir am Ende beschlossen: "Es soll nicht sein, wir verkaufen es und jeder holt sich was Eigenes für sich allein."

Heute, nachdem ich diesen Plan umgesetzt habe und in meiner Wohnstadt, in der ich mich pudelwohl fühle, im eigenen Häuschen sitze, habe ich das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Ich bin gerne ab und zu im Heimatdorf, zum Retro-Skat mit alten Kumpels, zum Klassentreffen, oder auch ab und an am Grab der Eltern, und es fühlt sich gut an. Und anschließend bin ich froh, wenn ich wieder in meinem neuen Haus in meiner Wohnstadt, wieder "daheim" bin.