Angeregt durch den blog-Artikel Zeitreise des Herrn gnaddrig tauchten so viele Gedanken und Bilder vor meinem emotionalen Auge auf, dass ich sofort anfangen musste, diese niederzuschreiben.
Wie ist das mit meiner alten Heimat, mit meiner Beziehung zu dem Dorf, in dem ich zur Welt gekommen und aufgewachsen bin? Heute, mit 61, bin ich nun glücklich und zufrieden in meiner Wohn- und Arbeitsstadt im eigenen Häuschen angelangt. Und ab April 2020 wird es nur noch meine Wohnstadt sein. Wie war das alles damals?
Ich fange mal ganz von vorne an. Als kleines Kind ging es mir wie den meisten von uns, das Haus, dann die Straße, dann das Dorf waren die ganze Welt, die ich kannte. Zweifel daran oder Sehnsüchte nach fernen Welten waren mir völlig fremd. Im Haus der Oma geboren, der Hof des Bauernbetriebs war mein Spielzimmer, der Sandkasten im Hof des Nachbarhauses ein zweiter Aufenthaltsort, in dem ich mit dem Nachbarsmädchen, das ein Jahr älter war, spielte und zankte, oder gezankt wurde.
Das Rheinufer war der gefährlichste Spielort, die verbotene Zone, denn da hauste ja die schröckliche Onnermooder (deutsch: Untermutter), die alles verschlang, wenn man ihrem Reich, dem Fluss, zu nahe kam. Das morgendliche Eingesammeltwerden von der Kindergärtnerin, Fräulein Lieselotte, war eine Reise, die zweihundert Meter bis zur Holzbaracke schnell ein gewohnter Pfad. An Ostern das Einsammeln der versteckten Ostereier im Casino-Garten, Distanz einhundert Meter, der einzige Ausflug, an den ich mich in der Zeit erinnere.
Dann mit fünf Jahren der Umzug ins neu gebaute, halb fertige Eigenheim am anderen Ende des Dorfs. Dass dies deshalb geschah, weil es meinen Eltern im großen Bauernhaus mit meinen Großeltern, zwei Geschwistern meiner Mutter, und anderen Bewohnern, die ich schon vergessen hab, zu eng, zu laut, zu hektisch wurde, habe ich damals nicht gewusst. Mein Brüderchen war bereits unterwegs, kam zur Welt, bevor wir einzogen, und verbrachte die erste Zeit im Schlafzimmer meiner Eltern, während ich recht schnell ein eigenes Zimmer bekam.
Neue Freunde lernte ich hier am Ortsrand am Ende einer noch nicht asphaltierten Straße schnell kennen. Der Weg endete in einem Feldweg im wahrsten Sinne des Wortes, danach kamen nur noch Felder. Schräg gegenüber von unserem Haus, neben der alten Scheune, war viel Erde aus den Baugruben der Häuser aufgeschüttet worden. Diese Hügellandschaft war schnell bewachsen mit Sträuchern, Wiese und kleinen Obstbäumen. Für uns waren das die "Apachenberge", unser liebster Spielplatz.
Das Stromern in Feldern und Wäldchen, das Klettern auf Bäume, das war unser Ding den ganzen Sommer über. In der Nachbarschaft gab es fünf Kinder in meinem Alter, weitere fünf ein paar Jahre jünger, wir spielten in unserer eigenen kleinen Welt. Mit der Einschulung kamen dann weitere Kinder hinzu, die Meisten kannte ich bereits aus dem Kindergarten, aber einige waren auch neu zugezogen.
Dass dies mit dem neuen Industriegebiet, das nebenan entstand, zusammenhing, wusste ich damals nicht. Das zog weitere Familien an, hier gab es Arbeit. Einige auf dem Klassenfoto vom zweiten Schuljahr waren nur für zwei oder drei Jahre hier, dann zogen die Familien weiter.
Unser Spielrevier weitete sich aus, die (illegale?) Müllkippe direkt hinter den Feldern und vor den enstehenden Fabriken wurde kurzerhand von den Eltern zur verbotenen Zone erklärt. Ebenso wie zwei Jahre später das Gelände neben dem neu entstehenden Hafen am Rhein, der gerade ausgebaggert wurde. In den Pfützen zwischen den Dreck- und Kohlebergen gab es zu Hunderten Kaulquappen, die uns bei unseren Aufzuchtversuchen im heimischen Garten hinter dem Haus meist jämmerlich verreckten.
Dann mit zehn der Wechsel aufs Gymnasium, in meinen Erinnerungen gegen meinen strikten Willen, weil ich lieber bei meinen Freunden im Dorf bleiben wollte. Jahrzehnte später erklärte mir meine Mutter stets, dass ich das selbst gewollt habe, ich müsse mich wohl irren.
Trotz Gymnasium auf der anderen Rheinseite blieb das Dorf noch meine emotionale Heimat. Erst mit der einsetzenden Pubertät führten Hormone, Suff und Widerwärtigkeit schnell dazu, dass ich unbedingt aus dieser Enge fliehen wollte, dieses spießbürgerliche verheuchelte Drecksnest irgendwann für immer verlassen wollte. Und keinesfalls konnte ich mir damals vorstellen, auch nur annähernd so brav und angepasst wie meine Eltern zu werden. Aber ich musste 23 Jahre alt werden, um den ersten Schritt aus dem Elternhaus zu wagen. Und auch danach blieb "meine" Dorfkneipe "daheim"noch viele Jahre die Stammkneipe, wo ich mich mit den alten Kumpanen am liebsten bematschte. Aber nur zu Besuch. Hier nochmal leben? NIEMALS!
In den nächsten fünf Jahren dann gefühlte sieben Wohnungswechsel, immer in sicherem Abstand rund ums Heimatdorf. Als hätte man mit dem Zirkel einen Kreis drum herum gezogen, auf dem fast alle meiner Behausungen lagen. Dann, nach fünf Jahren, der große Bruch im Leben. Knapp neun Monate Alkoholentzug, danach ein langer Weg zurück in ein halbwegs strukturiertes Leben. Nüchtern war es noch klarer: NIE MEHR würde ich in diese Umgebung zurück wollen, NIE MEHR!
30 Jahre später:
Einige Wochen, nachdem wir unsere Mutter im Familiengrab neben unserem Vater beerdigt hatten, spazierte ich mit meinem Bruder im Anschluss an ein Treffen im Elternhaus über einen der früheren Feldwege, heute begehrte Spazierrouten durch Schrebergärten, Wäldchen und Felder. Früher war das die Route für die ungeliebten Sonntagsspaziergänge mit den Eltern, Nun fühlte es sich seltsam anders an.
Wir trafen an einem Ende des Wegs, kurz bevor man an die Rückseite der alten Tankstelle kommt, einen Klassenkameraden aus der Volksschule mit seiner Frau. Ich freute mich sehr über dieses unverhoffte Wiedersehen und sie liefen ein Stück mit uns. Dann kam uns eine Freundin entgegen, die noch im Ort lebt und die von ihrer Mutter mit dem Rollstuhl geschoben wurde. Sie hat MS. Wir blieben alle zusammen stehen und quatschten. Drei Minuten später kamen ein alter Kumpel und seine Lebensgefährtin mit dem Fahrrad vorbei, blieben auch stehen. So standen wir alle zusammen, blockierten den ganzen Weg und redeten wild durcheinander. Da merkte ich, dass es mich richtig durchströmte, aus der Erde floss ein Strom durch meine Füße und durch meinen ganzen Körper bis in den Kopf. Ich hatte keine Chance, mich dagegen zu wehren. Diese Energie ließ mich spüren:
Hier bist Du daheim, hier gehörst Du hin!
Nach einer Weile löste sich unser Pulk auf und ich ging mit meinem Bruder alleine den Weg zurück bis zum Elternhaus. Ich erzählte ihm, wie es mir gerade gegangen ist, hatte Tränen in den Augen und ich hatte das Gefühl, er versteht es genau, er kennt das. Er war derjenige, der immer zurück ins Dorf wollte, später mal.
Danach gab es viele Pläne, gemeinsam am Elternhaus unsere Zelte aufzuschlagen. Umbauen, Ausbauen, hinten im Garten neu bauen. Leider machte das zuständige Bauamt uns so viele Striche durch alle Rechnungen, dass wir am Ende beschlossen: "Es soll nicht sein, wir verkaufen es und jeder holt sich was Eigenes für sich allein."
Heute, nachdem ich diesen Plan umgesetzt habe und in meiner Wohnstadt, in der ich mich pudelwohl fühle, im eigenen Häuschen sitze, habe ich das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Ich bin gerne ab und zu im Heimatdorf, zum Retro-Skat mit alten Kumpels, zum Klassentreffen, oder auch ab und an am Grab der Eltern, und es fühlt sich gut an. Und anschließend bin ich froh, wenn ich wieder in meinem neuen Haus in meiner Wohnstadt, wieder "daheim" bin.
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