Was für ein Tag! Mein Freund und Ex-Kollege begleitete mich heute zum ersten Stadionbesuch seit Jahren, den er und seine Frau mir im Frühjahr zum Geburtstag geschenkt hatten. Ein Spiel Deiner Wahl hieß es, meine Wahl fiel auf das heutige Spiel gegen Ärzgebirge Aue. Das war eins der wenigen Samstagsspiele, zu denen man bequem mit dem Wochenendticket an- und vor allem wieder abreisen kann. Zudem war Aue auch ein Gegner, gegen den man sich etwas ausrechnen konnte.
So standen wir um kurz nach acht am Andernacher Bahnhof und ich freute mich tierisch, endlich mal wieder TIEF IM WESTEN im Stadion live mitzusingen. Es fing ganz harmlos an, der RE5 war fast pünktlich, wir fanden noch zwei freie Sitzplätze, und liefen mit nur zehn Minuten Verspätung in Kölle ein. Dort hatten wir planmäßig zwanzig Minuten Aufenthalt, blieben also noch zehn. Genug, um von Gleis 1 zu Gleis 4 zu wechseln und unterwegs im Bahnhof Getränke zu holen. Pinkeln wäre wegen der wie immer defekten Zugtoiletten im RE5 auch gut gewesen, aber McClean verlangt für einmal strullern 1 Euro, da kniff ich lieber alles zusammen und hoffte auf eine funktionierende Toilette im RE1 nach Hamm/Westfalen.
Auf Gleis 4 angekommen, sah alles gut aus, fünf Minuten Verspätung wurden gemeldet, geschenkt. Zwei Minuten vor Eintreffen des Zuges dann die Durchsage, dass der RE1 heute ausnahmsweise nicht auf Gleis 4, sondern auf Gleis irgendwas einfährt. Ausnahmsweise! Mich würde wirklich interessieren, ob der RE1 in 2018 schon einmal pünktlich auf Gleis 4 abgefahren ist.
Wir standen nahe an der Treppe, flitzten sofort hinunter und auf Gleis irgendwas wieder hoch. Der Zug stand schon da, war ziemlich voll und wir stiegen in den erstbesten Wagen ein. Als wir merkten, dass wir in der ersten Klasse waren, wollten wir in den nächsten Wagen, doch da stauten sich bereits Massen, die durch die nächste Tür reinströmten. Durchkommen nur unter erschwerten Bedingungen möglich, also unter Einsatz der Ellenbogen. Am Ende der 1.Klasse im Durchgang waren links und rechts je 2 Sitze mit dem Rücken zur Wagenwand, da hockten wir uns erstmal hin und wollten warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Aber wir staunten nicht schlecht, als noch minutenlang unzählige Völkerscharen an uns vorbei von der 1. in die 2.Klasse strömten nach dem Motto: Einfach weiter drücken und Drängeln, irgendwie passen wir rein. Kurz nachdem sich der Zug in Bewegung setzte, riss der Strom ab, wir konnten jedoch durch das Türfenster sehen, dass der Vorraum des nächsten Waggons extrem überbevölkert war. Also beschlossen wir, sitzen zu bleiben, in der 1.Klasse war gähnende Leere und wir saßen ja im Durchgang. Wenn der Kontrolleur drauf besteht, würden wir halt aufstehen und uns durch die Tür in die 2.Klasse drängen, 2 Meter Luftlinie.
Es kam niemand, uns gegenüber hatten sich zwei ältere Damen gesellt, die sich auch nicht in den Pulk drängeln wollten. Mein Kollege versuchte zwischendurch, die wahrscheinlich einzige funktionierende Toilette direkt hinter der Tür zur 2.Klasse zu besuchen. Vergeblich. Klo besetzt und fünf Wartende davor. Kein Durchkommen. Meine Blase hatte ich mittlerweile mental komplett verschlossen, die würde bis Bochum halten. Kurz vor Bochum stand dann eine streng gescheitelte Bahnbedienstete vor uns. Eine der beiden Damen gegenüber machte sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub. Die andere wurde belehrt, dass sie mit dem ungültigen Ticket eine Falschfahrerin sei. Sie machte gar nicht erst den Versuch, sich gegen das 60-Euro-Knöllchen zu wehren. Dann waren wir an der Reihe. Ich hatte bereits meine Jacke angezogen und wollte die 2 Meter nach drüben gehen, da erklärte sie mir, das könne ich mir sparen, wir seien Falschfahrer und würden nun belangt. Ich versuchte alles, um sie zu umzustimmen, aber da hätte ich auch mit der Parkuhr reden können. Keine Gnade, keine menschliche Regung zu erkennen. Direkt zahlen lehnte ich ab, also mussten wir unsere Ausweise vorzeigen und ich bekam ein Schwarzfahrerticket zu 60 Euro aufgedrückt, die Personalien meines Kollegen wurden ebenfalls aufgenommen. Das Ticket bekam er nicht mehr, weil wir in Bochum ausstiegen.
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Wo gibt es sowas noch? Im City-Café Bochum! |
Scheiß drauf, wir waren in meiner zweiten Heimat angekommen und machten uns sofort auf den Weg in die Innenstadt zum City-Café. Das liegt auf dem Weg zum Stadion und ist seit langem Pflicht bei Stadionbesuchen. Ich fühlte mich dreißig Jahre zurückversetzt. Hier ist alles geblieben wie immer. Mein Begleiter sprintete sofort in den Keller zur Toilette und strahlte erleichtert, als er zurückkam. Das war kurz vor knapp.
Nach dem Verzehr von Apfelstrudel mit (Diät-)Schlagsahne und Espresso/Cappuccino beschlossen wir, nochmal ein Stück zurück zu gehen und im Fanshöpchen zwei einfache Sitzkissen zu erstehen, denn ich erinnerte mich an die kalten Plastikstühle bei 5° Außentemperatur. Nun merkte ich, dass ich lange nicht mehr in Bochum gewesen bin. Ich verfranste mich derart in den Straßen, die von Weihnachtsmarktbuden gesäumt waren, dass ich am Ende überhaupt nicht mehr wusste, wo wir waren. Die Befragung mehrere Einheimischer brachte uns auf den Weg zurück Richtung Bahnhof und links ab an die Castroper Straße, vorbei am Planetarium und dann sahen wir schon die Flutlichtmasten des Ruhrstadions. Ein toller Anblick für mich. Ein bisschen wie heimkommen.
Im Stadion dann Block B, Reihe 14. Mitten unter blau-weißen Ruhrpottlern. Diese Sprache, welcher Wohlklang! Vor Spielbeginn, wie immer, Herbys Hymne.
TIEF IM WESTEN, WO DIE SONNE VERSTAUBT,
IST ES BESSER, VIEL BESSER, ALS MAN GLAUBT
TIEF IM WÄÄHÄSSTEN - EHENN -EHENN -EHENN
TIEF IM WÄÄHÄSSTEN - EHENN -EHENN -EHENN
Gänsehaut pur, wenn man das mit der ganzen Kurve singt. Und dann vor dem Anpfiff ein Konfettiregen in der Fankurve und auch in unserem Block direkt daneben. Wir wurden regelrecht zugeschneit und die Stimmung war sofort riesig.
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Mit Ansage: |
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Jaaaaaaaaaaaaaa!!!!!! |
Ein furioser Spielbeginn. Anstoß Bochum. Erste Aktion, direkt nach vorne gespielt, Tom Weilandt allein vor dem Auer Torwart - und schießt ihn an! Den lupft der normalerweise mit geschlossenen Augen rein!
Gegenzug Aue, 2.Minute, Schuss - Tor! 0:1! Schock!
Dann ein Spiel zum Beklopptwerden. Wieder mal einer der Tage, an denen die Jungs alles wollen, aber nix gelingt. Immer wieder verspringende Bälle, ungenaue Pässe, unbedrängte Fehlpässe direkt zum Gegner, Flanken hinters Tor. Das sind eigentlich Tage, an denen man fünf Stunden spielen kann und kein Tor schießt. Der Wille ist bei allen unverkennbar. "Kämpfen Bochum Kämpfen!". Die Fans feuern sofort nach dem Rückstand unaufhörlich an und lassen bis zur letzten Sekunde des Spiels nicht nach. Trotzdem geht man mit 0:1 in die Pause.
Der Auer Torwart spielt seit dem Führungstreffer auf Zeit, lässt sich bei jedem Abschlag endlos viel Zeit, der Schiri findet das ok, im Gegensatz zu der Fankurve, die den Torwart jedesmal wüst beschimpft. Auch scheinen einige Spieler von Aue sofort tödlich verletzt zu sein, wenn sie einmal zu fest angeguckt werden, wälzen sich im Todeskampf schreiend über den Rasen - um anschließend innerhalb einer Sekunde von den Toten erweckt zu werden und los zu laufen wie in junger Gott. Der Schiri lässt das alles durchgehen, der macht mich wütend, der blinde Sack!
Nach dem Wechsel eine noch drückendere Überlegenheit, gefühlte 80% Ballbesitz, aber keine vernünftige Flanke. Ein Abseitstor. Und dann kommt Lee! In 57. Minute wird er für den jungen Saglam eingewechselt und sofort kommt mehr System in die Angriffe. Eine Viertelstunde später ist es soweit, Tom Weilandt erzielt den Ausgleich und das Stadion steht Kopf. Regelrecht erzwungen haben die Jungs das, Respekt! Aber in der Schlussviertelstunde will der Siegtreffer trotz aller Bemühungen nicht fallen. Die 90 Minuten sind rum. 3 Minuten Nachspielzeit. Die Kräfte lassen nach. Wir haben uns mit dem Unentschieden arrangiert. Und trotzdem geht es immer wieder nach vorne. Und als die 3 Minuten so gut wie rum sind, keiner mehr damit rechnet, haut Weilandt irgendwie im Strafraum das Ding nochmal in die Maschen. Siegtor! Abpfiff! Das Spiel ist aus!
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Tom Weilandt Fußballgott! Und links: Leeeeeee! |
Wir können unser Glück kaum fassen, ich falle mir mit meinem Sitznachbarn, einem älteren Bochumer Original, um den Hals, wildfremde Menschen umarmen sich, unbeschreibliche Szenen auf dem Platz und auf den Rängen. Mal wieder wein Herztodspiel, wie ich schon so viele hier erlebt habe, nur wenige mit gutem Ausgang. Wir verabschieden uns noch mit Applaus von den Spielern, die vor der Kurve und Block A/B die LaOla machen. Mensch, was geht's mir gut!
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Das Spiel ist AUS AUS AUS! Der Dank an die Fans. |
Mein Begleiter beglückt noch einmal die Keramik im Stadion und dann marschieren wir zurück zum Bahnhof, inmitten glücklicher VFL-Fans. Unser Zug fährt fast pünktlich ab, wir achten peinlich genau darauf, in die richtige Klasse einzusteigen. Im Zug überfällt meinen Kollegen kurz vor Köln der ultimative Harndrang. Wir können ja im Bahnhof. Durch die Verspätung nur noch 8 Minuten Aufenthalt. Sollte reichen. Runter zum McClean. Scheiß auf den Euro. Collega hat kein Kleingeld. Ich geb ihm ein 2-Euro-Stück. Er geht zum Drehkreuz, um festzustellen, dass man nur 1-Euro-Münzen einwerfen kann. Mist! Dann halt im Zug!
Zurück aufs Gleis 9 D-G. Dort die Mitteilung, dass der Zug diesmal auf Gleis 7 abfährt. Kölle halt. Treppe runter, Treppe rauf. Auf Gleis 7 steht nix von unserem RE5. Dann die Durchsage, dass er doch auf Gleis 9 abfährt. Husch husch zurück. Als wir einsteigen, hat der Kollege bereits ein ganz verkniffenes Gesicht. Ich glaube, irgendwas tropft ihm aus den Ohren. Schnell mit der Jacke den Sitzplatz sichern und dann flitzt er schon los. Als er zehn Minuten später wiederkommt, hat er ein glückseliges Lächeln im Gesicht.
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Zufrieden und glücklich - trotz Deutsche Bahn |
Nun meldet sich auch meine Blase wieder. Mein Begleiter berichtet, dass er sich durch unseren und durch zwei weitere überfüllte Wagen quetschen musste, um den ersten funktionierenden Klo zu finden. Ich, nicht dumm, wähle den Weg in die andere Richtung. Zwei Wagen und somit zwei defekte Klos weiter stehe ich vor der 1.Klasse. Nochmal 60 Ocken nur für Pinkeln will ich nicht riskieren und mache kehrt. Zwei Wagen zurück, weitere zwei Wagen in die andere Richtung finde ich eine freie und funktionierende Toilette. Deutsche Bahn, wie sie leibt und lebt. Aber für zwei Meter zu weit weg sitzen 60 Oere pro Nase verlangen. Das zum Thema "Verhältnismäßigkeit der Mittel".
Aber jetzt ist aller Mist vergessen und vorbei. Es bleibt der schöne Moment, den ich nun daheim auf meiner Couch genieße. Und ein Dank an meine edlen Spender. Ein tolles Geschenk!