Irgendwann im November war es so gekommen, wie es kommen musste. Die Hausverwaltung hatte allen Mietern im Haus der Gestrandeten schriftlich mitgeteilt, dass die gemeinsame Zeit bald zu Ende gehen wird. Man hatte sich brav für die gute Zusammenarbeit bedankt – und dann wegen Eigenbedarf gekündigt. Zum Glück blieben noch gut vier Monate, sich um etwas anderes zu kümmern. Die Kündigungsschreiben waren in den nächsten Tagen das beherrschende Thema der abendlichen Treffen in Mike's Bude. Ende März mussten alle raus sein.
Kalli und Elke planten, sich in der Nähe von Kallis Elternhaus nieder zu lassen, denn sein Vater würde sich sicher um eine passende Wohnung kümmern. Der würde seinen jüngsten Sohn nicht hängen lassen. Klar, das würde eine Umstellung für Elke sein, aus ihrem gewohnten Umfeld heraus in die nächste Provinzstadt zu ziehen, wo sie nur eine Freundin kannte, wo man einen anderen Dialekt sprach. Wichtig würde die richtige Entfernung zu Kallis Elternhaus sein. Nah genug dran, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, weit genug weg, um nicht ständig von den Alten kontrolliert zu werden.
Der lange Piet von oben hatte sich mit seiner Freundin schon ein Appartement drei Häuser weiter gesichert. Der Kellner aus der Nachbarwohnung wollte näher an seine Arbeitsstelle ziehen, einem vornehmen Restaurant in der Altstadt, ebenso wie Öhrchen aus dem Keller, die zukünftig zu Fuß zum Anschaffen im Roten Haus gehen wollte, weil ihr die nächtlichen Heimfahrten mit der Taxe zu teuer geworden waren. Selbst der Schüttel-Müller aus dem anderen Kellerloch hatte nach kurzer Zeit irgendwo einen neuen Mietvertrag erschwindelt.
So hörte Mike nach und nach von den anderen Mitbewohnern, wie schnell die meisten was Neues gefunden hatten. Daher beschloss er, sich keine Sorgen machen zu müssen. Er vertraute darauf, irgendwas würde sich für ihn ergeben, irgendwas ergab sich immer, wenn man nur lange genug wartete.
Ein anderes seltsames Problem hatte sich klammheimlich in Mike's Gedankenwelt eingeschlichen. Er bekam ab und an das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Nicht oft, aber immer mal wieder. Und er wurde dieses Gefühl an solchen Tagen auch nicht mehr los, wenn es denn einmal da war. Da halfen auch Unmengen von Bier nicht drüber hinweg.
Ein paar Wochen später folgte einer dieser Tage. Er war mit einigen anderen aus der Clique am Ende eines feuchtfröhlichen Abends in Tonis Eckkneipe gelandet. Kalli war schon nicht mehr dabei, Elke hatte ihn nicht mehr gehen lassen, nachdem er sich von Mikes Wohnung aus gerade noch in ihr Appartment auf der anderen Seite des Flurs geschleppt hatte. Dass er dann in einem kurzen Moment der Unachtsamkeit den geöffneten Kleiderschrank mit der Toilette verwechselt hatte, war für Elke Anlass genug, ihn als „vollgesoffene Drecksau“ zu beschimpfen und gleichzeitig die Höchstrafe zu verhängen: Absolutes Ausgehverbot für den Rest des Abends. Tja, Pech gehabt.
Aber Kallis Schwester Rosi war noch mit dabei, die schon seit langem Mikes verstohlene Blicke auf sich zog. Sie war eine gepflegte Frau mit einem schwarzen Kurzhaarschnitt, immer gut gekleidet, aber nie aufgedonnert. Etwas schüchtern wirkte sie, angenehm zurückhaltend. Keine Schönheit aus dem Katalog, aber Mike spürte, dass hinter der verschlossenen Fassade ein übergroßes Herz schlug. Leider war auch ihr Freund Martin mit dabei, ein ziemlicher Honk, der jedoch durch seine ständige Schwarzarbeit immer Kohle hatte. Sein Gesicht wirkte unsauber, er hatte halblange, fettige Haare und einen ungepflegten Schnauzbart, der die gelben schiefen Zähne teilweise verdeckte. Auch kleidungsmäßig war er das ziemliche Gegenteil von Rosi. Kein Mensch verstand, was die beiden zusammen hielt, vor allem, wenn Rosi mal wieder mit dicker Lippe und geschwollenem Gesicht auflief.
Mike hatte das vage Gefühl, dass auch er Rosi nicht ganz gleichgültig war. Aber alle weiteren Vorstellungen waren in seiner internen Wertung in der Kategorie „Undenkbar“ eingeordnet. Darunter gab es nur noch die Rubrik „Unmöglich“, in der befanden sich „Ewig leben“, „Sechser im Lotto“, „Zum Jupiter fliegen“ und ähnliche Hirnfürze.
Martin war zwar ein Idiot, aber er ließ Kalli und Mike ab und zu mitfahren, wenn er einen Zuarbeiter brauchte, der ihm Balken und Rigipsplatten unter's Dach schleppte. Der schwarze Innenausbau war ein einträgliches Geschäft. Die Kohle bar auf die Kralle, das war schon was Genaues. Demzufolge war Martin zwar ein Arsch, aber kein Riesenarsch.
An diesem Abend war sogar der bekloppte Schüttel-Müller aus dem Kellerloch mit in die Kneipe gezogen. Der nippte aber nur an einem einzigen Bier und war als Kerl nicht für voll zu nehmen.
Mit einigen anderen Stammgästen trugen sie an diesem Abend erbitterte Kicker-Turniere aus. Mike war nur ein mittelmäßiger Spieler, was ihn an diesem Abend einige Biere kostete.
Und dann passierte es. In einer Spielpause saß Mike am Tisch, schlürfte sein Bier – und bekam plötzlich seinen Moralischen.
„Ach du Scheiße, was ist denn jetzt los?“ dachte er noch und dann brach es aus ihm heraus, diesmal aber richtig. Er fing an zu flennen, völlig ohne Vorwarnung.
Ok, der Abend war lang gewesen, sie hatten schon kurz nach Mittag begonnen, vorzuglühen und dann kein Ende mehr gefunden, jetzt war es kurz nach Mitternacht und er war voll wie ein Eimer, aber muss man deshalb heulen?! Als Rosi sich zu ihm setzte und fragte, was denn los sei, während sie besorgt seinen Kopf in ihre Hände nahm, war es ganz um ihn geschehen. Es sprudelte unter Tränen aus ihm heraus, dass er doch merke, dass mit ihm etwas nicht stimme, dass es nicht mehr normal sei mit der ständigen Sauferei, und dass er nicht mehr dran vorbeisehen könne, dass er das brauche und aus dieser Nummer alleine nie mehr rauskomme. Dass er nur zu feige sei, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, und so weiter und so weiter. Sein ganzes erbärmliches Leben. Mein Gott!
Als er sich irgendwann wieder gefangen hatte, empfand er eine seltsame Mischung aus Scham und Erleichterung. Sich vor seinen Kumpels so zu blamieren, kam einer persönlichen Bankrotterklärung gleich, machte ihn für immer und ewig zum Gespött aller anderen. Er war die personifizierte Null. Er würde Rosi nie mehr unter die Augen treten können, so peinlich war das. Aber gleichzeitig war da auch so ein Gefühl der Befreiung, etwas ausgesprochen zu haben, was er schon lange ahnte, sich aber nie offen zu denken geschweige denn auszusprechen getraut hatte.
Zwar war er hackedicht und schämte sich so sehr, dass er alles stehen ließ, ohne zu bezahlen einfach raus rannte und sich zu Hause einschloss, aber seit diesem Abend wusste er eigentlich, was mit ihm nicht stimmte. Er schlief nicht sofort ein, obwohl er die nötige Bettschwere längst hatte, er war einfach zu aufgewühlt von dem, was mit ihm passiert war.
Erst viele Jahre später wurde ihm klar, was an diesem Abend geschehen war. Ein Dämon aus den tiefsten Löchern seines Ichs, ein guter Dämon, ein Selbsterhaltungsdämon, hatte für einen kurzen Augenblick den Weg nach oben geschafft, war kurz aufgetaucht, hatte flugs ein Samenkorn in die verseuchte Erde gelegt und war sofort wieder abgetaucht. Seitdem hatte sich dieses Körnchen als sehr robust erwiesen und hatte gekeimt. In den nächsten Jahren hatte es nach und nach kleine Triebe entwickelt, sobald das Klima mal zwei Tage trocken genug war. Das kam selten genug vor, aber es passierte schon mal.
Mike prägte erst später einen neuen Begriff für sich in dieser Zeit. In Anlehnung an die Abkürzung U.F.O. für „Unidentified Flying Object“ war er ein U.D.S., ein „Unidentified Drinking Subject“. Wie sich das anfühlt, dafür musste man nur Ten C.C. auflegen, „The anonymous alcoholics“ hören und den Text dabei verstehen. Eine perfekte Symbiose des Innen- und Außenlebens eines U.D.S.
Am nächsten Tag musste er feststellen, dass Martin & Co. von seiner Heuleinlage gar nichts mitgekriegt hatten, die hatten am Kicker gestanden und waren außerdem selbst zu besoffen gewesen, um überhaupt etwas zu peilen. Der Schüttel-Müller war schon längst daheim gewesen und Kalli war ja erst gar nicht mitgekommen. Lediglich Rosi wusste es, und die hatte offensichtlich niemandem etwas davon erzählt.
Ach Rosi!
Mike hatte wohl noch einmal Glück gehabt und nahm sich vor, zukünftig besser auf sich zu achten und beim kleinsten Anzeichen eines bevorstehenden „Moralischen“ früh genug den Heimweg anzutreten.
Er fühlte sich in den nächsten Tage wie hingeschissen. Er konnte nicht richtig denken, Blockaden schwer wie Wackersteine versperrten die Wege durch seine Gehirnwindungen und lösten sich auch nicht auf, sondern sackten nach und nach tiefer und machten sein Herz sehr schwer.
Das Bier schmeckte irgendwie komisch, und auch die Schwedenkräuter der Hausverwalterin lösten das miese Gefühl nicht auf. Die wies ihn eindringlich darauf hin, dass er nur noch zwei Wochen Zeit habe bis zur Räumung.
Es hatte sich trotz hartnäckigen Wartens nichts für Mike ergeben, niemand hatte ihn angesprochen und ihm eine neue Wohnung angeboten. Sollte er sich mit seiner Abwarte-Taktik verzockt haben? Er erinnerte sich an die Situation drei Jahre vorher. Damals hatte er nach dem angekündigten Rausschmiss aus dem Elternhaus das Ganze mit seinem Kumpel Hannes besprochen, und obwohl seine Eltern ihre Drohung wahrscheinlich nie wahr gemacht hätten, hatte Hannes ihm sofort angeboten, erst mal bei ihm unter zu kommen. Für Mike war das damals DIE Gelegenheit gewesen, seinen Eltern endlich zu zeigen, dass er sich nicht drohen lässt. Und er hatte Hannes' Angebot dankbar angenommen.
Er beschloss, auch diesmal eine ähnliche Taktik anzuwenden. Direkt um die Ecke wohnte in einem kleinen, aber feinen Appartement ein anderer Kumpel, Charlie. Ein Lebenskünstler und Frauenheld wie er im Buche steht. Immer gut angezogen, gepflegt, immer Kohle in der Tasche. Dem würde er seine Not schildern und dann abwarten, ob ein Angebot kommt.
Gesagt, getan. Zwei Tage später erklärte Charlie, dass er seinen Kumpel Mike natürlich nicht auf der Straße sitzen lässt, und bot ihm Asyl in seiner Wohnung an. Allerdings betonte er ziemlich auffällig, dass dies wirklich nur eine kurze Übergangslösung sein könne, denn seine Bude sei zu klein, und seinen hochfrequent rotierenden Damenbesuch irritiere es, wenn plötzlich ein fremder Mann in der Wohnung rumlaufe. „Kurze Übergangslösung“ hörte sich zwar irgendwie nach Stress und Arbeit an. Aber Mike erinnerte sich an einen Spruch seiner Mutter, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Und zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben fand er einen Spruch seiner Mutter passend. Er würde erstmal zu Charlie ziehen und dann würde man sehen. Irgendwas würde sich schon ergeben.
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Hey Manni, ich schaue hier immer wieder rein und
AntwortenLöschenwarte auf die nächste Fortsetzung!
Wie geht es denn nun weiter ?!?!?
Und wann ???
Lass mich und alle anderen Leser bitte nicht so lange zappeln :-)
Liebe Grüße
Maren