Es hätte ein Novembermorgen wie viele andere sein können. Wäre der gestrige Abend nicht so extrem ausgeufert, dann hätte er wenigstens zwei, drei Stunden Schlaf gehabt. Eine knappe Stunde wurde daraus, zu wenig. Der Wecker holte Mike zu schnell und zu brutal wieder zurück. Dafür bezahlte er mit seinem mechanischen Leben. Nachdem Mike mehrfach hektisch und vergeblich nach dem Knopf zum Ausstellen gesucht hatte, landete der Wecker krachend an der Wand. Es war ein schöner großer Wecker mit zwei metallenen Klingeltöpfen, die von dem dazwischen verankerten Hämmerchen zu einem Höllenlärm getrieben wurden. Das Mike überhaupt den Weg aus dem Bett schaffte, war nur der Tatsache zu verdanken, dass der Dreckswecker nach dem Aufschlag weiter über den Boden zockelte und erbärmliche Töne von sich gab, wie ein verendendes Tier. Ein abgeschossener Vogel, der im Todeskampf um sich schreit, nicht mehr laut, aber dafür mit diesem unerträglichen hohen Schriebsen, das ihm keine andere Wahl ließ als aufzuspringen und seiner Wut freien Lauf zu lassen. Beim finalen Barfußtritt auf das scheppernde Etwas riss er sich auch noch die Ferse auf. Er blutete. Aber wenigstens war jetzt Ruhe.
Er holte tief Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, mit gefühlten zwei Restpromille und einem stechenden Schmerz im Fuß gar nicht so einfach. Weckerklingeln bedeutete: Vier Uhr morgens. Bis halb fünf mussten sie den Wagen in der Firma abholen. Das hieß: Fünf Minuten für Katzenwäsche, anziehen, Ein Liter Wasser aus dem Kran trinken, Ein Liter aus der Blase ins Klo lassen, gegenüber bei Kalli klopfen.
Dort herrschte schon helle Aufregung. Das tägliche Spiel der Eskalation hatte seinen immer gleichen Lauf bereits angetreten. Elke war beim Versuch, ihren Lebensabschnittsgefährten zu wecken, schon bei wüsten Drohungen angekommen. Das hieß: Gleich kommt die nächste Stufe, kaltes Wasser in Kallis schlafendes Gesicht. Das wiederum brachte stets als Gegenreaktion zuerst sein wütendes Gebrüll, nach der zweiten Kaltwasserspülung Schläge und Elkes Geschrei. Mike konnte das heute nicht ertragen. Er sagte zu Elke: „Ich geh allein los, bin in einer halben Stunde mit dem Wagen da.“ und machte sich auf den Weg. 20 Minuten Fußweg zur Arbeit, heute durch einen fiesen kalten Nieselregen, der ihm auch die letzte Hoffnung auf einen halbwegs guten Tag raubte. Ein Auto konnte sich keiner von ihnen leisten, es war ein schlecht bezahlter mieser Teilzeitjob, die Kohle reichte grad zum Leben.
Mit jedem Schritt nahmen Kälte und Nässe ein Stück mehr Besitz von seiner Kleidung, mit jedem Atemzug an der frischen Luft wich der Restalkohol mehr aus seinem Körper und er fror wie ein Schneider. Als er erschöpft und fertig am Haus des Firmeninhabers ankam, galt es nur noch eine Herausforderung zu meistern: Er musste den Wagen aus dem Hof holen. Eigentlich kein Ding, den Schlüssel für das schmiedeeiserne Hoftor hatte er an seinem Bund. Jedoch lauerte in diesem Hof ein Hund. Bully hieß er, ein passender Name. Die Familie des Inhabers hatte ihnen beim Antritt ihres Jobs versichert, dass der Hund jeden Abend von ihnen persönlich im Zwinger eingeschlossen werde, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen. Sorgen machte Mike vor allem, dass dieses Tier weniger einem Hund glich als einer mannsgroßen Mordmaschine. Da diese Bestie bei jeder kleinsten Bewegung wie ein tollwütiger Ork laut kleffend gegen den Zaun seines Zwingers sprang, war sie zum Glück gut zu orten. Mike hatte trotzdem einen Mordsschiss vor dem Hund. Er hatte es einmal erlebt, dass die Familie vergessen hatte, Bully abends wegzusperren. Und an jenem Morgen war der Mörderhund nicht gegen den Zaun seines Zwingers gesprungen, sondern gegen das schmiedeeiserne Tor, als Mike sich diesem näherte. Die Vorstellung, das Tor wäre dabei aufgegangen, hatte ihn danach einige Nächte lang verfolgt.
Aber an diesem Morgen war alles anders. Kein Geräusch aus dem Hof. Oh Gott, was war das denn nun? Mike klopfte vorsichtig mit dem Schlüsselbund an das Eisentor. Keine Reaktion. Er spinzte durch die Stäbe, doch es war noch viel zu dunkel, um irgend etwas im Hof erkennen zu können. War der Köter tot? Bully war bisher nie durch Verschlagenheit, sondern eher durch pure Aggression aufgefallen. Kaum vorstellbar, dass der wirklich irgendwo lauerte. Wenn er da war, musste er Mike gehört haben. Oder hatten ihn die Inhaber bei einer ihrer exzessiven Feten besoffen gemacht und er schlief irgendwo seinen Rausch aus? Mike fiel nichts anderes ein, als sich langsam vorzutasten. Er entriegelte das Schloss, und begann das Tor millimeterweise zu öffnen. Immer noch keine Reaktion aus dem Hof. Als das Tor soweit geöffnet war, dass er gerade seinen Kopf hätte durchstecken können, blickte er direkt in 2 glühende Kohlen und ein heißer Atem schlug ihm knurrend ins Gesicht. Mike blieben für einen Sekundenbruchteil Herz und Verstand gleichzeitig stehen und er riss in Panik das Tor mit Gewalt zu. Im gleichen Augenblick versuchte sich Bully durch den geöffneten Türspalt auf ihn zu stürzen. Dabei wurde seine Schnauze kurz in der Tür verklemmt und die Kreatur explodierte in wütendem Schmerz.
Mike stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Tor und irgendetwas in ihm schaltete alle Empfindungen ab. Das war eindeutig zu viel für einen Tag wie diesen. Bully lag blutend und wimmernd hinter dem Tor. Mike empfand weder Kälte noch Angst, als er nun das Tor öffnete und den Hof betrat. Bully sah ihn kurz an und verzog sich dann ängstlich heulend in seinen Zwinger. Dieser Hund konnte ihm keine Angst mehr machen. Zumindest heute nicht.
Mike schnappte sich den Pickup und düste los. Eigentlich sollte er jetzt Kalli abholen, doch heute drehte er seine Runde lieber alleine. Denn das Elend um Kalli und Elke würde er heute nicht auch noch ertragen können.
Als sein Chef ihn nach der Schicht fragte, was denn morgens losgewesen sei, zuckte er nur mit den Schultern und sagte „Einfach ein Scheißtag heute.“
Ich hab jetzt Kopfkino und ich muss ständig lachen weil Du sehr realitätsnah schreibst.
AntwortenLöschenDas müssen ja sehr bewegte Zeiten gewesen sein ;-)
der Sternenmann