25 Dezember 2016

Erste Erzählung aus dem "Irgendwas-geht-schon"-Land


Ohne Plan und ohne Lappen

Mikes Ausbildungsplatz als Bauzeichner war ein erstklassiges Beispiel dafür, dass jede Form von Planung im Leben völlig überbewertet wird. Irgendwie ergibt sich immer irgendwas, wenn man nur lange genug wartet, das war seine unumstößliche Lebenseinstellung. Und tatsächlich, es ergab sich wieder etwas in diesem Sommer, an einem trüben Sonntagabend in der heimischen Eckkneipe. Mike hatte gerade Wochenendurlaub vom Bund, 3 Monate hatte er noch abzureißen, bis dieser beschissene Grundwehrdienst beendet war. Zum Bund war er eh nur gekommen, weil er es versäumt hatte, rechtzeitig den Dienst an der Waffe zu verweigern, wie es einige seiner Kumpels gemacht hatten. Egal, Chance vertan, nicht heulen, andere überstehen die 15 Monate auch, hatte er sich letztes Jahr gedacht.
An diesem Abend hatte er bewusst die Eckkneipe gewählt, seine Deckel in der Stammkneipe hatten die Höhe seines monatlichen Wehrsolds längst überschritten. Der Wirt hatte ihm dringlichst geraten, sich nur noch mit entsprechender Kohle sehen zu lassen. Außerdem hingen da einige seiner besten Kumpel rum, von denen er die meisten auch bereits angepumpt hatte. Die 30 Mark, die er in der Tasche hatte, wäre er dort sofort losgewesen. Also saß er allein am Tresen der Eckkneipe und süffelte an seinem dritten Bier. Kein Mensch zum Skat kloppen in Sicht, womit er sich in der Regel die Getränke des Abends finanzierte. Anstatt dessen ging die Kneipentür in seinem Rücken gegen 10 Uhr nochmal auf und er hörte die vertraute Stimme von Paul. Paul Bendler, überall nur Paule genannt, Architekt, genauso oft in der Kneipe wie im Büro. In jeder Kaschemme des Orts bekannt wie ein bunter Hund, und nicht nur im Ort. Typ sympathisches Schlitzohr, immer frisch, beim Zahlen zog er immer Bündel von großen Geldscheinen aus dem Portemonnaie, und Mike hatte keine Ahnung, wie der immer an soviel Kohle kam. Niemand verstand Paule so richtig, weil er keinen Satz zu Ende sprach. Seine Gedanken sprudelten wohl schneller und konfuser aus seinem Kopf direkt ins Sprachzentrum, als seine Zunge nachkam. Paule redete beim Betreten der Kneipe wie so oft mit sich selbst oder seinem Freund Harvey, wer wußte das schon.

„Mann, das ist ja ein Scheißwetter, wir haben doch eigentlich – Ach Moment, ich wollte doch noch – wie spät haben wir denn eigentlich, Moment – Nabend allerseits, was ist denn hier für eine Stimmung, Beerdigungskaffee oder wie – ach egal, mach mal 3 Bier!“
Paule setzte sich zu Mike an den Tresen und begrüßte ihn mit einem kräftigen Schulterklopfer und den Worten „Na, Jung, biste beim Bund?“
Das war natürlich die einzig mögliche Erklärung für Mikes Kurzhaarschnitt.
„Jau sicher, seht ma doch!“
„Wie lang noch?“
„3 Monate, bis Ende September!“
„Und, wie isset?“
„Beschissen!“
„Und wat machste dann?“
„Keine Ahnung, weiß ich doch jetzt noch net!“
„Ich brauche noch en Lehrjung, wär dat nix für Dich?“
„Hää? Als wat dann?“
„Als Bauzeichner! Der Baums Berthold ist doch och bei mir, den kennste doch!“
„Jooah, warom eijentlich net? Wat verdeent ma dann?“
„Im 1. Lehrjahr glaub ich 350, dann wird dat mehr, nach der Prüfung moss ma dann sehn.“
„Ab wann dann?“
„Ab 1.August.“
„Ach Mist, ich bin doch noch bis Ende September beim Bund!“
„Nää, da kannste früher weg, wenn Du ne Lehrstelle hast, ich schreib Dir wat!“
„Ehrlich, dat geht?“
2 Monate den Bund verkürzen, eine göttliche Vorstellung für Mike.
„Jau, klar! Du moss nur morje fröh direkt in der Kasern Bescheid gewe.“
„Joa dann, alles klar, ich wiere Bauzeichner!“
Einen Handschlag und 3 Paule-Biere später war der Handel besiegelt.


Als Mike am nächsten Morgen in der Kaserne dem Spieß sein Anliegen vortrug, die Truppe in 4 Wochen vorzeitig zu verlassen, schaute der ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Gefreiter Neuhaus, die Frist für solche Anträge ist vor ungefähr 3 Monaten abgelaufen!“ „Aber Herr Hauptfeld, ich hab die Lehrstelle doch gestern erst angeboten bekommen, und ich müsste ein ganzes Jahr warten, bis ich die nächste Chance hätte!“
Wahrscheinlich dachte der Spieß wirklich, dass mit Mike etwas nicht stimme, denn er redete plötzlich mit ihm wie mit einem Schwachmaten, ganz langsam und verständnisvoll.
„Neuhaus, jetzt hör mal zu, Junge. Überleg Dir das doch einfach nochmal gut. Wenn Du nochmal drüber schläfst und ..… „ Aber während er noch redete, wurde ihm wohl auch klar, dass dies eine gute Chance sein könnte, den bescheuerten Neuhaus endlich loszuwerden. Er versprach, mit dem Kompaniechef zu reden und mal zu schauen, was sich machen lässt. Noch am gleichen Nachmittag bekam Mike die mündliche Zusage, 2 Tage später hatte er alles mit Stempel und Unterschrift auf dem Tisch: Ausnahmegenehmigung, die Freiheit winkt! Sein zukünftiger Lehrherr hatte es tatsächlich geschafft, den Ausbildungsvertrag in Windeseile zur Kaserne zu bringen und ihn bei der IHK anzumelden. Und so wurde Mike tatsächlich weitere 3 Wochen später ausgekleidet und trat seine Ausbildung zum Bauzeichner an.
Paul Bendler musste leider kurz vor dem Beginn von Mikes Ausbildung seinen Führerschein zum wiederholten Mal abgeben. Er war dreimal besoffen gefahren, oder besser zum dritten Mal besoffen erwischt worden, das bedeutete diesmal 2 Jahre Führerscheinentzug und eine empfindliche Geldstrafe. Daher war Mikes Tätigkeit während der kompletten Lehrzeit von vorne herein klar definiert: Er würde den Chauffeur für Paule spielen.
Aber das ist eine andere Geschichte.
-Fortsetzung folgt-

08 Dezember 2016

Erste Erzählung aus dem Haus der Gestrandeten


Ein Morgen mit Bully

Es hätte ein Novembermorgen wie viele andere sein können. Wäre der gestrige Abend nicht so extrem ausgeufert, dann hätte er wenigstens zwei, drei Stunden Schlaf gehabt. Eine knappe Stunde wurde daraus, zu wenig. Der Wecker holte Mike zu schnell und zu brutal wieder zurück. Dafür bezahlte er mit seinem mechanischen Leben. Nachdem Mike mehrfach hektisch und vergeblich nach dem Knopf zum Ausstellen gesucht hatte, landete der Wecker krachend an der Wand. Es war ein schöner großer Wecker mit zwei metallenen Klingeltöpfen, die von dem dazwischen verankerten Hämmerchen zu einem Höllenlärm getrieben wurden. Das Mike überhaupt den Weg aus dem Bett schaffte, war nur der Tatsache zu verdanken, dass der Dreckswecker nach dem Aufschlag weiter über den Boden zockelte und erbärmliche Töne von sich gab, wie ein verendendes Tier. Ein abgeschossener Vogel, der im Todeskampf um sich schreit, nicht mehr laut, aber dafür mit diesem unerträglichen hohen Schriebsen, das ihm keine andere Wahl ließ als aufzuspringen und seiner Wut freien Lauf zu lassen. Beim finalen Barfußtritt auf das scheppernde Etwas riss er sich auch noch die Ferse auf. Er blutete. Aber wenigstens war jetzt Ruhe.
Er holte tief Luft und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, mit gefühlten zwei Restpromille und einem stechenden Schmerz im Fuß gar nicht so einfach. Weckerklingeln bedeutete: Vier Uhr morgens. Bis halb fünf mussten sie den Wagen in der Firma abholen. Das hieß: Fünf Minuten für Katzenwäsche, anziehen, Ein Liter Wasser aus dem Kran trinken, Ein Liter aus der Blase ins Klo lassen, gegenüber bei Kalli klopfen.

Dort herrschte schon helle Aufregung. Das tägliche Spiel der Eskalation hatte seinen immer gleichen Lauf bereits angetreten. Elke war beim Versuch, ihren Lebensabschnittsgefährten zu wecken, schon bei wüsten Drohungen angekommen. Das hieß: Gleich kommt die nächste Stufe, kaltes Wasser in Kallis schlafendes Gesicht. Das wiederum brachte stets als Gegenreaktion zuerst sein wütendes Gebrüll, nach der zweiten Kaltwasserspülung Schläge und Elkes Geschrei. Mike konnte das heute nicht ertragen. Er sagte zu Elke: „Ich geh allein los, bin in einer halben Stunde mit dem Wagen da.“ und machte sich auf den Weg. 20 Minuten Fußweg zur Arbeit, heute durch einen fiesen kalten Nieselregen, der ihm auch die letzte Hoffnung auf einen halbwegs guten Tag raubte. Ein Auto konnte sich keiner von ihnen leisten, es war ein schlecht bezahlter mieser Teilzeitjob, die Kohle reichte grad zum Leben.

Mit jedem Schritt nahmen Kälte und Nässe ein Stück mehr Besitz von seiner Kleidung, mit jedem Atemzug an der frischen Luft wich der Restalkohol mehr aus seinem Körper und er fror wie ein Schneider. Als er erschöpft und fertig am Haus des Firmeninhabers ankam, galt es nur noch eine Herausforderung zu meistern: Er musste den Wagen aus dem Hof holen. Eigentlich kein Ding, den Schlüssel für das schmiedeeiserne Hoftor hatte er an seinem Bund. Jedoch lauerte in diesem Hof ein Hund. Bully hieß er, ein passender Name. Die Familie des Inhabers hatte ihnen beim Antritt ihres Jobs versichert, dass der Hund jeden Abend von ihnen persönlich im Zwinger eingeschlossen werde, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen. Sorgen machte Mike vor allem, dass dieses Tier weniger einem Hund glich als einer mannsgroßen Mordmaschine. Da diese Bestie bei jeder kleinsten Bewegung wie ein tollwütiger Ork laut kleffend gegen den Zaun seines Zwingers sprang, war sie zum Glück gut zu orten. Mike hatte trotzdem einen Mordsschiss vor dem Hund. Er hatte es einmal erlebt, dass die Familie vergessen hatte, Bully abends wegzusperren. Und an jenem Morgen war der Mörderhund nicht gegen den Zaun seines Zwingers gesprungen, sondern gegen das schmiedeeiserne Tor, als Mike sich diesem näherte. Die Vorstellung, das Tor wäre dabei aufgegangen, hatte ihn danach einige Nächte lang verfolgt.

Aber an diesem Morgen war alles anders. Kein Geräusch aus dem Hof. Oh Gott, was war das denn nun? Mike klopfte vorsichtig mit dem Schlüsselbund an das Eisentor. Keine Reaktion. Er spinzte durch die Stäbe, doch es war noch viel zu dunkel, um irgend etwas im Hof erkennen zu können. War der Köter tot? Bully war bisher nie durch Verschlagenheit, sondern eher durch pure Aggression aufgefallen. Kaum vorstellbar, dass der wirklich irgendwo lauerte. Wenn er da war, musste er Mike gehört haben. Oder hatten ihn die Inhaber bei einer ihrer exzessiven Feten besoffen gemacht und er schlief irgendwo seinen Rausch aus? Mike fiel nichts anderes ein, als sich langsam vorzutasten. Er entriegelte das Schloss, und begann das Tor millimeterweise zu öffnen. Immer noch keine Reaktion aus dem Hof. Als das Tor soweit geöffnet war, dass er gerade seinen Kopf hätte durchstecken können, blickte er direkt in 2 glühende Kohlen und ein heißer Atem schlug ihm knurrend ins Gesicht. Mike blieben für einen Sekundenbruchteil Herz und Verstand gleichzeitig stehen und er riss in Panik das Tor mit Gewalt zu. Im gleichen Augenblick versuchte sich Bully durch den geöffneten Türspalt auf ihn zu stürzen. Dabei wurde seine Schnauze kurz in der Tür verklemmt und die Kreatur explodierte in wütendem Schmerz. 

Mike stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Tor und irgendetwas in ihm schaltete alle Empfindungen ab. Das war eindeutig zu viel für einen Tag wie diesen. Bully lag blutend und wimmernd hinter dem Tor. Mike empfand weder Kälte noch Angst, als er nun das Tor öffnete und den Hof betrat. Bully sah ihn kurz an und verzog sich dann ängstlich heulend in seinen Zwinger. Dieser Hund konnte ihm keine Angst mehr machen. Zumindest heute nicht.
Mike schnappte sich den Pickup und düste los. Eigentlich sollte er jetzt Kalli abholen, doch heute drehte er seine Runde lieber alleine. Denn das Elend um Kalli und Elke würde er heute nicht auch noch ertragen können.

Als sein Chef ihn nach der Schicht fragte, was denn morgens losgewesen sei, zuckte er nur mit den Schultern und sagte „Einfach ein Scheißtag heute.“