Messer werfen
Es gibt Gesichter, die vergisst man nicht.
„Leute aus dem Zirkus“, sagte meine Mutter. „In zwei Wochen. Der Junge soll in die Fünfte.“
Und wenn der Junge nun in meine Klasse käme? Sicher war er wunderschön. Mit Zigeunergesicht und verwegen blitzenden Augen. Er saß auf einem schwarzen Pferd und ritt über den Schulhof. Bestimmt spielte er Gitarre, konnte Messer werfen und Tiger bändigen.
Erich wurde mein Idol, bevor er überhaupt da war. Zwei lange Wochen musste ich noch warten, bis dieser Prinz mein Leben erhellen würde. Jeden Nachmittag ging ich raus, in der Tasche den Dolch, den mir mein Opa zum elften Geburtstag geschenkt hatte, und übte Messerwerfen. Schließlich musste ich ihn, wenn er kam, ja auf mich aufmerksam machen. Und etwas anderes als Messerwerfen fiel mir noch nicht ein.
Niemandem erzählte ich etwas von der Neuigkeit, nicht mal Silvi und Renate, meinen besten Freundinnen. Und wer einmal gute Freundinnen hatte, der weiß, dass man vom Verschweigen wunderbarer Geheimnisse Bauchschmerzen bekommen kann. Aber endlich hatte ich etwas, was ich den anderen Mädchen gegenüber noch nie empfunden hatte: einen Vorsprung. Sonst waren immer die anderen mir voraus. Silvi malte sich seit einiger Zeit die Lippen an. Und Renate trug sogar schon einen BH, den sie mit Watte ausstopfte.
In diesen zwei Wochen hatte ich den Neuen ganz für mich. Ich sah schon, wie er uns seine Kunststücke zeigen würde, übers Seil laufen, Jonglieren, Feuer schlucken, all das. Und eines Tages, wenn es ans Messerwerfen gehen würde, würde ich ganz locker aufstehen, nachdem er zwanzigmal ins Schwarze geworfen hätte, und zu ihm sagen: „Kann ich auch mal?“ Und alle würden lachen.
Ich trete ganz nah an ihn heran. Er lächelt mir zu und gibt mir seinen Dolch. Und ich rieche seinen Abenteuergeruch. Lagerfeuerrauch und warmer Pferdekörper. Dann nehme ich das Messer und werfe ganz locker aus der Hüfte raus und treffe voll ins Schwarze. Allen stehen die Münder offen. Und er sagt: „Wow!“ Und dann ist er mein Freund. Jeden Abend schlief ich mit diesem Bild ein.
Das mit dem Messerwerfen war aber schwerer als gedacht. Am ersten Tag malte ich ein Kreidekreuz auf die Kastanie. Am zweiten Tag einen Kreis. Am dritten nahm ich mir vor, den Baum überhaupt zu treffen. Aber ich gab nicht auf. Manchmal blieb das Messer in der Rinde stecken. Zweimal schnitt ich mich in den Finger. Es waren herrliche Zeiten. Ich hatte ein Ziel.
Nach vierzehn Tagen traf ich den Kreis.
Und dann kam er. Er kreuzte meinen Schulweg und ich zuckte zusammen. Nicht im Traum hätte ich ihn mit meinem Helden in Zusammenhang gebracht. Man stelle sich eine mittlere Bohnenstange vor. Alles an ihm war riesig: die Nase ein Schürhaken, der Mund ein Scheunentor, dazu solche Segelohren, dass er aussah wie ein Topf mit Henkeln. Die Augen viel zu weit voneinander entfernt und so schwarz, dass man Angst hatte, jeden Moment hineingezogen zu werden wie in den Eingang der Hölle. Mich fragend, wer um alles in der Welt das sei, setzte ich meinen Schulweg fort. Wenig später betrat er unseren Klassenraum und in meinem Kopf reifte eine entsetzliche Wahrheit heran.
Erich verkörperte in allem das Gegenteil meines Helden. Statt nach Abenteuer roch er nach ungewaschenen Füßen, sah schwächlich aus, zeigte keine Kunststücke. Noch dazu war er zweimal sitzen geblieben. Welch eine Schande! Ich war gekränkt. Obwohl es niemanden gab, den ich in meine Träumereien eingeweiht hatte, war mir, als hätte er mir öffentlich eine Ohrfeige gegeben. Zur Strafe ließ ich ihn links liegen.
Auch die anderen schnitten ihn. Anfangs hatten sich noch Neugierige gefunden, doch nach ein paar provokanten Fragen: „Wie is ’n das so im Zirkus? Wohnt ihr noch im Wohnwagen? Kriegste denn immer mit wie deine Eltern vögeln?“, die er ausweichend beantwortete, war das Interesse an ihm erloschen.
Er war ein stiller Typ. Die Lehrer wurden nicht müde, ihn daran zu erinnern, dass er, wenn er so weiter mache, wieder sitzen bleiben würde. Wohl deshalb hatten seine Eltern sich entschieden, ihre Herumzieherei aufzugeben und ihn in einer festen Schule anzumelden.
Ich war damals sehr eingebildet, wusste es nur noch nicht. Das Lernen fiel mir leicht. Einer, der zweimal sitzen geblieben war, galt mir selbstverständlich als strohdumm. Der normale kindliche Größenwahn? Jedenfalls bin ich Erich bis heute dankbar, dass er mir half, mein jämmerliches Weltbild ins Wanken zu bringen. Als er es tat, empfand ich allerdings nur dumpfe Vernichtung. Später schämte ich mich. Weil ich ihn so gründlich unterschätzt hatte.
Alles begann ganz harmlos, mit dem „Klamotten-Klau-Spiel“. In der Pause versammelten sich die Mädchen auf der einen und die Jungs auf der anderen Seite des Schulhofs. Fite, der Chef der Jungs, gab das Zeichen und dann rannten alle auf die gegenüberliegende Seite, wobei sie versuchten, den Entgegenkommenden ein Kleidungsstück abzunehmen. Falls einem etwas entwendet worden war, musste man es spätestens bis Unterrichtsbeginn wieder auslösen, wobei der Dieb entschied, was er dafür haben wollte. Die Mädchen wollten meist einen Kuss, die Jungs irgendwo anfassen. Gestohlen wurden Pionierhalstücher, Mützen, Jacken, und einmal sogar ein Strumpf. Ich selbst klaute nie etwas, das Auslösen wäre mir viel zu riskant gewesen.
Und an einem Junitag passierte es. Mein zwölfter Geburtstag. Ich war in Hochstimmung. Morgens durfte ich das Westpaket von meinem Opa auspacken und fand ein nagelneues T-Shirt, orange, mit knallroten Blumen darauf. Ein Traum von einem Shirt! Natürlich wollte ich es gleich zur Schule anziehen. Meine Eltern waren dagegen. Sie wollten keinen Ärger mit ihrem Chef. Dass es ein West-T-Shirt war, sah man auf drei Kilometer Entfernung. Aber ich flehte inständig und schließlich gaben sie nach. Erhobenen Hauptes machte ich mich auf den Schulweg. Ich fühlte mich schön wie nie. Die Sonne schien, die Vögel sangen, die Welt war nur für mich gemacht.
Es kam, wie es kommen musste. Sämtliche Jungs fielen in der ersten Hofpause über mich her. Ich versank in einem Knäuel von Händen, schrie, hoffte auf Mädchensolidarität, kämpfte und tobte. Und plötzlich stand ich allein da. Ohne Shirt. Zwar hatte ich noch mein Unterhemd an, aber das war gleichbedeutend mit nackt sein. Mit weichen Knien rannte ich in eine Mauernische. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Keine zehn Pferde hätten mich aus der Nische herausgebracht. Konnten nicht wenigstens Silvi oder Renate mir helfen? Nichts tat sich. Auch von den Jungs kam keiner. Ich hätte ja nun zu ihnen gehen und das gute Stück auslösen müssen. Minute für Minute verging. Es war furchtbar. So gottverlassen hatte ich mich noch nie gefühlt.
Und da sah ich Erich. Er hatte auf einer Bank gesessen und erhob sich nun. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihm abwenden. Er wirkte noch größer als sonst und mit jedem Schritt, den er quer über den Schulhof machte, schien er über sich hinaus zu wachsen. Ruhig und konzentriert ging er auf die Jungs zu. Jetzt sah ich auch, wer mein Shirt hatte. Es war Fite.
Ich hielt den Atem an. Was ging hier vor? Verbündete Erich sich ausgerechnet jetzt mit den Jungs? War ich nun das schwarze Schaf? War das seine Rache an mir? Grund genug hatte er. Erich, der mich zu einer Matheaufgabe fragt; Erich, der sich von mir einen Stift ausborgen will; Erich, der mit mir den Blumendienst machen will. Ich hatte ihn immer abblitzen lassen. In diesem Moment wusste ich, dass er meine Freundschaft gesucht hatte, ja, dass er klüger war als ich. Er hatte erkannt, dass wir beide Außenseiter waren. Erich klüger als ich? Ich geriet in komplette Verwirrung.
Erich baute sich vor Fite auf. Er war größer als Fite. Aber hinter dem standen vierzehn Jungs. Fite schrie: „Verpiss dich!“ Seine Stimme klang schrill. Schon dröhnte die Pausenklingel. Ich ließ alle Hoffnung fahren. Da machte Erich eine verblüffende Bewegung, blitzschnell, fuchtelte mit den Armen durch die Luft, als führe er ein Schwert, drehte sich um die eigene Achse und streckte die Hand in Fites Richtung aus, ohne ihn zu berühren. Fite schrie auf, die anderen Jungs wichen entsetzt zurück.
Nun hielt Erich mein Shirt in der Hand.
Seelenruhig, als wäre nichts geschehen, kam er auf mich zu, reichte mir das Shirt, sagte: „Beeil dich, die Stunde fängt gleich an“, ging ein paar Schritte, wartete, bis ich heran war, um mich dezent ins Schulhaus zu begleiten.
Im Klassenraum war es ungewohnt still.
Am nächsten Tag wartete er am Tor. Nachdem wir ein Stück schweigend gegangen waren, nahm ich meinen Mut zusammen und sagte: „Danke wegen gestern“.
Statt einer Antwort fing er an zu lachen. Es klang wie das Schnaufen einer erkälteten Giraffe. Verstört blickte ich auf. Lachte er mich aus?
„War es schön im Zirkus?“ quetschte ich hervor, um der peinlichen Situation zu entgehen.
„Ja“, rief er fröhlich. „Und weißt du was? Meine Eltern halten es auch nicht mehr aus in der Wohnung. Das ist nichts für uns. Im Sommer sind wir weg. Ich bin so froh!“
Ich blieb abrupt stehen. „Du ziehst weg?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme bebte.
Erich strahlte. „Gestern hat mein Vater unterschrieben. Wir gehen zum Berolina! Ich hab ‘ne eigene Nummer! Mit ‘nem Schwein und zwei Hunden!“
„Was?“
„Ich trete auf, mit ‘ner Sau und zwei Foxterriern. Ein tolles Ding, sag ich dir! Müsstest du sehen.“ Die Sonne schien durch seine Segelohren. Seine schwarzen Augen leuchteten.
„Und die Schule?“
„Ach, Schule!“ Er spuckte aus. „Ich werd’ sowieso Akrobat. Bin schon ziemlich gut. Irgendwann hab ich meinen Wagen und meine eigenen Tiere, und denk mir selbst Programme aus!“
Ich schluckte. Da stand einer, dessen Welt war eindeutig größer als meine. Der machte ernst mit der Freiheit. Der konnte weggehen.
Wir hatten den Weg zum Fluss eingeschlagen. Die engen Straßen und kleinen Fachwerkhäuser, alles kam mir plötzlich vor wie ein Gefängnis.
„Wie hast du das mit Fite gemacht?“ fragte ich.
Er grinste. „Kleiner Akrobatentrick.“
Und mit einem Mal hatte ich Lust, ihm zu zeigen, dass mehr in mir steckte als dieses eingebildete Lehrerkind.
„Ich kann auch einen Trick. Hast du ein Messer dabei?“
Er hatte. Es war ein Klappmesser. Ein paar Schritte weiter stand eine alte Kastanie. Ich trat zurück, nahm die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger und zielte. Das Messer schwirrte durch die Luft und traf den Baum genau in der Mitte.
„Wow!“, sagte Erich. „Das fetzt!“
„Kannst du auch Messer werfen?“ fragte ich.
Er zog sein Messer aus dem Baum, klappte es zusammen und steckte es in die Hosentasche. „Nö. Aber das hier kann ich.“ Er nahm ein paar flache Steine vom Weg. „Komm mal mit!“
Wir liefen über die Wiesen. Dann hockten wir uns ans Ufer. Erich warf geschickt einen Stein nach dem anderen, und zwar so, dass sie wie bizarre Wasserläufer über die Oberfläche hüpften und ein schwirrendes Geräusch von sich gaben. Ich versuchte es nachzumachen, schaffte es aber nicht.
Schließlich saßen wir einfach nur da und schwiegen. Auf den Wiesen grasten die Pferde. Vor uns tummelten sich Enten und Schwäne. Sonnenlicht glitzerte auf den Wellen. Erichs Augen fingen es auf und ihre Schwärze verwandelte sich in einen besternten Nachthimmel.
Es gibt Gesichter, die vergisst man einfach nicht.
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Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin Doris Bewernitz.
Die Geschichte ist erschienen in der Kurzgeschichtensammlung "Das war ich nicht, das waren die Hormone", herausgegeben von Volker Surmann im Satyr-Verlag und enthält 42 Kurzgeschichten rund um die Pubertät von Frank Goosen, Jakob Hein, Martina Brandl, Jess Jochimsen und vielen anderen Autoren.
"Messer werfen" hat mich am meisten berührt, bei anderen Geschichten hab ich schallend gelacht, bei manchen hab ich mich schmunzelnd an meine eigene Pubertät erinnert. Nur ganz wenige haben mir nicht gefallen.
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