01 August 2012

Moral und Politik


Der folgende Erfahrungsbericht des Sozialarbeiters Dieter Carstensen hat mich sehr betroffen gemacht. Welchen Zusammenhang sehen Jugendliche heute noch zwischen Moral und Politik? Traurige Antwort: Gar keine!

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Über Moral und Politik


Moral und Politik sind ja zur Zeit das Thema, was unsere Republik bewegt. Wem kann man überhaupt noch glauben? Welche Partei hält sich noch an ihre Wahlversprechen? Wie soll es weiter gehen? Wann bricht der Euro zusammen? Welche Alternativen gibt es? Was ist mit den Arbeitslosen? Welche Zukunft hat die Jugend? Macht das Leben noch einen Sinn? Um diesen komplizierten Themenkreis drehte sich gestern eine Gesprächsrunde mit Schülerinnen und Schülern von drei zwölften Klasse eines Gymnasiums, zu der mich ein mit mir befreundeter Lehrer eingeladen hatte, um das Ganze aus sozialarbeiterischer Sicht ergänzen zu können.
Es war wirklich spannend, zu erfahren was so junge Menschen wirklich denken. 67 junge Schülerinnen und Schüler hatten als Klassenarbeiten das Thema erhalten gehabt "Über Moral und Politik" zu schreiben, die Klassenarbeiten waren nun alle ausgewertet und die Ergebnisse sollten nun gemeinsam besprochen werden. Keine Klassenarbeit war zu meinem Erstaunen mit schlechter als "gut" bewertet worden, mit dem Einverständnis der Schülerinnen und Schüler durfte ich die meisten Arbeiten lesen, um mich auf die Gesprächsrunde vorbereiten zu können.
War harter Tobak, was die jungen Leute da so geschrieben hatten!
Ist natürlich nicht repräsentativ, aber wenn diese Momentaufnahme von 16 bis 17 jährigen GymnasiastInnen die Sicht unserer Jugend zur Politik wieder spiegelt, wird mir ganz anders. In keinem einzigen der von mir gelesenen Aufsätze tauchte auf, dass diese jungen Menschen noch Vertrauen in die Politik haben, es war vom Misstrauen und Betrug die Rede. Die meisten hielten in ihren Aufsätzen ALLE Politiker, egal welcher Partei, für Lügner und Betrüger.
Mich als überzeugtem Demokraten hat das sehr erschüttert, weil unsere Kinder und Jugendlichen unsere Zukunft sind und wenn sie nicht mehr in unsere Demokratie vertrauen, weil sie sich verraten und belogen fühlen, was dann?
Wir haben dann zwei Stunden lang alle gemeinsam über die Aufsätze diskutiert.
Es ging in der Diskussion viel über enttäuschte Hoffnungen, Lug und Betrug, Korruption, Krieg, Arbeitslosigkeit und Zukunftschancen für diese jungen Menschen.
Die meisten wollen gar nicht mehr wählen gehen, da sie darin keinen Sinn mehr sehen, so ergab sich in der Diskussionsrunde, sie haben einfach resigniert und aufgegeben. Ihr Hauptziel ist ihr eigenes, privates Glück, Themen wie Liebe und Partnerschaft standen für sie an erster Stelle und vor allem Moral im positiven Sinne.
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit waren für diese jungen Menschen, in ihren Aufsätzen und in der Diskussion das wichtigste Thema. "Politiker", so sagten sie mir, wäre unter Jugendlichen heute ein Schimpfwort, wenn man jemand anders in der Klasse ärgern wolle, dann müsse man nur sagen, "Du Politiker" und der Andere würde sofort an die Decke springen, bildlich ausgedrückt. Ich nehme Jugendliche immer ernst, nach zig Jahren Sozialarbeit mit Jugendlichen meine ich zu wissen, dass sie wie Erwachsene zu behandeln sind, nur halt weniger Lebenserfahrung haben, aber sie testen das Leben aus, wollen lernen aus ihren Erfahrungen und ich finde, das ist das Recht der Jugend.
Wenn unsere Jugendlichen sich so verraten und verkauft fühlen, durch unsere Politik, wo soll das denn enden?
EIN Jugendlicher war dabei, dessen Ansichten ich als mehr als rechts einschätzen würde, der Junge wollte am liebsten halb Berlin in die Luft sprengen, drei Jugendliche waren sehr links eingestellt und wollten schon Morgen den Kapitalismus abschaffen, wie, dass wussten sie auch nicht, aber es ihr Ziel, weil sie gegen Hunger, Elend und Ausbeutung sind und die Mehrzahl hat resigniert und will nur noch das private Glück finden.
Ich habe dann in der Diskussion versucht, den Jugendlichen Mut zu machen, sich einzubringen in unserer Demokratie, etwas zu bewegen zu versuchen, aber in meiner Argumentation kam ich mir ihnen gegenüber teilweise wie ein "Alien" vor, wie von einem anderen Planeten stammend. Ich bin jetzt 55 Jahre, aber nie zuvor habe ich mich so alt gefühlt, wie in der Diskussion mit diesen jungen Menschen.
Die junge Sandra, 16 Jahre, hochintelligent und nach meiner Einschätzung eher links denkend, sagte zum Abschluss der Diskussion dann wörtlich:
"Dieter, wir sind jung, aber nicht doof. Die Politiker lügen nur rum, Anstand und Moral kennen die doch nicht mehr, sieht man jeden Tag in der Glotze. Wir haben die Schnauze voll von den Irren."
Was sollte ich darauf noch erwidern? Mir fiel nichts ein, gebe ich zu, Sandra bekam einen Riesenapplaus von allen Mitschülerinnen und Mitschülern für ihre Aussage und auch ich habe ihr Beifall gespendet, will ich nicht verschweigen.
Als ich nachhause kam, habe ich mir die Frage gestellt: "Politik und Moral", passt das überhaupt zusammen?
Ich glaube nicht, ich habe von den Jugendlichen viel lernen dürfen.

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Bisher dachte ich immer, dass ein Großteil der Bevölkerung letztendlich doch den Politikern auf den Leim geht, dieser Bericht hat mich eines besseren belehrt, wenn er auch nicht repräsentativ ist. Aber als exemplarische Momentaufnahme taugt er sicher. Da weiß man gar nicht, ob man sich über die Verlogenheit der Politik ärgern oder über den den klaren Durchblick der Jugendlichen freuen soll.

Den Originalbericht findet Ihr unter anderem hier:

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