Der folgende Erfahrungsbericht des Sozialarbeiters Dieter Carstensen hat mich sehr betroffen gemacht. Welchen Zusammenhang sehen Jugendliche heute noch zwischen Moral und Politik? Traurige Antwort: Gar keine!
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Über Moral und Politik
Moral und Politik sind ja zur Zeit das Thema, was
unsere Republik bewegt. Wem kann man überhaupt noch glauben? Welche Partei hält
sich noch an ihre Wahlversprechen? Wie soll es weiter gehen? Wann bricht der
Euro zusammen? Welche Alternativen gibt es? Was ist mit den Arbeitslosen? Welche
Zukunft hat die Jugend? Macht das Leben noch einen Sinn? Um diesen komplizierten
Themenkreis drehte sich gestern eine Gesprächsrunde mit Schülerinnen und
Schülern von drei zwölften Klasse eines Gymnasiums, zu der mich ein mit mir
befreundeter Lehrer eingeladen hatte, um das Ganze aus sozialarbeiterischer
Sicht ergänzen zu können.
Es war wirklich spannend, zu erfahren was so junge Menschen
wirklich denken. 67 junge Schülerinnen und Schüler hatten als Klassenarbeiten
das Thema erhalten gehabt "Über Moral und Politik" zu schreiben, die
Klassenarbeiten waren nun alle ausgewertet und die Ergebnisse sollten nun
gemeinsam besprochen werden. Keine Klassenarbeit war zu meinem Erstaunen mit
schlechter als "gut" bewertet worden, mit dem Einverständnis der Schülerinnen
und Schüler durfte ich die meisten Arbeiten lesen, um mich auf die
Gesprächsrunde vorbereiten zu können.
War harter Tobak, was die jungen Leute da so geschrieben
hatten!
Ist natürlich nicht repräsentativ, aber wenn diese
Momentaufnahme von 16 bis 17 jährigen GymnasiastInnen die Sicht unserer Jugend
zur Politik wieder spiegelt, wird mir ganz anders. In keinem einzigen der von
mir gelesenen Aufsätze tauchte auf, dass diese jungen Menschen noch Vertrauen in
die Politik haben, es war vom Misstrauen und Betrug die Rede. Die meisten
hielten in ihren Aufsätzen ALLE Politiker, egal welcher Partei, für Lügner und
Betrüger.
Mich als überzeugtem Demokraten hat das sehr erschüttert, weil
unsere Kinder und Jugendlichen unsere Zukunft sind und wenn sie nicht mehr in
unsere Demokratie vertrauen, weil sie sich verraten und belogen fühlen, was
dann?
Wir haben dann zwei Stunden lang alle gemeinsam über die
Aufsätze diskutiert.
Es ging in der Diskussion viel über enttäuschte Hoffnungen,
Lug und Betrug, Korruption, Krieg, Arbeitslosigkeit und Zukunftschancen für
diese jungen Menschen.
Die meisten wollen gar nicht mehr wählen gehen, da sie darin
keinen Sinn mehr sehen, so ergab sich in der Diskussionsrunde, sie haben einfach
resigniert und aufgegeben. Ihr Hauptziel ist ihr eigenes, privates Glück, Themen
wie Liebe und Partnerschaft standen für sie an erster Stelle und vor allem Moral
im positiven Sinne.
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit waren für diese
jungen Menschen, in ihren Aufsätzen und in der Diskussion das wichtigste Thema.
"Politiker", so sagten sie mir, wäre unter Jugendlichen heute ein Schimpfwort,
wenn man jemand anders in der Klasse ärgern wolle, dann müsse man nur sagen, "Du
Politiker" und der Andere würde sofort an die Decke springen, bildlich
ausgedrückt. Ich nehme Jugendliche immer ernst, nach zig Jahren Sozialarbeit mit
Jugendlichen meine ich zu wissen, dass sie wie Erwachsene zu behandeln sind, nur
halt weniger Lebenserfahrung haben, aber sie testen das Leben aus, wollen lernen
aus ihren Erfahrungen und ich finde, das ist das Recht der Jugend.
Wenn unsere Jugendlichen sich so verraten und verkauft fühlen,
durch unsere Politik, wo soll das denn enden?
EIN Jugendlicher war dabei, dessen Ansichten ich als mehr als
rechts einschätzen würde, der Junge wollte am liebsten halb Berlin in die Luft
sprengen, drei Jugendliche waren sehr links eingestellt und wollten schon Morgen
den Kapitalismus abschaffen, wie, dass wussten sie auch nicht, aber es ihr Ziel,
weil sie gegen Hunger, Elend und Ausbeutung sind und die Mehrzahl hat resigniert
und will nur noch das private Glück finden.
Ich habe dann in der Diskussion versucht, den Jugendlichen Mut
zu machen, sich einzubringen in unserer Demokratie, etwas zu bewegen zu
versuchen, aber in meiner Argumentation kam ich mir ihnen gegenüber teilweise
wie ein "Alien" vor, wie von einem anderen Planeten stammend. Ich bin jetzt 55
Jahre, aber nie zuvor habe ich mich so alt gefühlt, wie in der Diskussion mit
diesen jungen Menschen.
Die junge Sandra, 16 Jahre, hochintelligent und nach meiner
Einschätzung eher links denkend, sagte zum Abschluss der Diskussion dann
wörtlich:
"Dieter, wir sind jung, aber nicht doof. Die Politiker
lügen nur rum, Anstand und Moral kennen die doch nicht mehr, sieht man jeden Tag
in der Glotze. Wir haben die Schnauze voll von den Irren."
Was sollte ich darauf noch erwidern? Mir fiel nichts ein, gebe
ich zu, Sandra bekam einen Riesenapplaus von allen Mitschülerinnen und
Mitschülern für ihre Aussage und auch ich habe ihr Beifall gespendet, will ich
nicht verschweigen.
Als ich nachhause kam, habe ich mir die Frage gestellt:
"Politik und Moral", passt das überhaupt zusammen?
Ich glaube nicht, ich habe von den Jugendlichen viel lernen
dürfen.
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Bisher dachte ich immer, dass ein Großteil der Bevölkerung letztendlich doch den Politikern auf den Leim geht, dieser Bericht hat mich eines besseren belehrt, wenn er auch nicht repräsentativ ist. Aber als exemplarische Momentaufnahme taugt er sicher. Da weiß man gar nicht, ob man sich über die Verlogenheit der Politik ärgern oder über den den klaren Durchblick der Jugendlichen freuen soll.
Den Originalbericht findet Ihr unter anderem hier:
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