19:58 Uhr
O Gott. Ich habe vor der ZDF-Insel so
viel Angst wie ein weiblich aussehender Straftäter vor Alcatraz. Hat
Kahn eigentlich lebenslänglich?
20:11 Uhr
Hier ist, ohne Witz, gerade eine Frau
in einer orangefarbenen Burka vorbeigelaufen. Lässt das ZDF jetzt
Thilo Sarrazin einfliegen?
20:21 Uhr
Es ist ein gespenstischer Kult: Wie
konnte ich als Kind, vor 25 Jahren, mit Figürchen spielen, die
aussahen wie der heutige Bundestrainer? Bin ich etwa Azteke? O großer
Playmobil, ich bete dich an! Nimm das Blut dieser Ziege!
20:32 Uhr
Die KMH sieht, vor dem Meer, in ihrem
Astronautenanzug, aus wie Charlton Heston in »Planet der Affen«.
Ist Kahn die in den Sand gestürzte Freiheitsstatue?
20:34 Uhr
Kahn tippt »ein ganz klares 2:1«. Und
die Rentner auf der Geronto-Insel machen: »Jööööööh!« Was sie
halt immer machen, wenn irgendwer was sagt. Warum bloß hat er sie
nicht gefragt, ob sie mit ihm untergehen wollen?
20:37 Uhr
Manuel Neuer steht der Schweiß auf der
Stirn. Schaut sich leicht angewidert auf die Hände. Sieht aus wie
ein Schlachter, der eine halbe Stunde lang die Kuh nicht tot gekriegt
hat. Und der könnte er ja tatsächlich auch sein, wenn er nicht so
hoch und weit springen würde. Fußball, du soziales Vehikel! Warum
hast du mich nicht mitgenommen, als ich den Daumen rausgehalten habe?
20:41 Uhr
Die Hymnen. Stimmung wie in Taizé.
Wenn der Fußballgott das noch erlebt hätte!
20:42 Uhr
Klar ist leider jetzt schon:
Deutschland ist chancenlos, weil numerisch hoffnungslos überlegen.
Schließlich erreichten uns aus Charkiw gerade schockierende Bilder.
Dort auf dem Platz tanzten hier, wenige Minuten vor dem Anpfiff gut
fünfzig Holländer über den Rasen. Dehnten sich synchron. Löws
Jungs aber sind immer noch zu elft. Wie sagt man so schön: Die
Zahlen sprechen gegen uns.
20:43 Uhr
Es ist weihevoll, es ist fantastisch,
es ist ein Alptraum, ich fühle mich todesnah. Und Rethy labert,
labert, labert, labert. So will ich nicht sterben.
1. Minute
Spiel läuft. Und hört sich gleich
nach dem Jahreskongress der Unsympathen an: "Nigel de Jong, Van
Bommel", sagt Rethy, der diese Veranstaltung natürlich
mitorganisiert hat.
3.
"Gomez gegen zwei Mann".
Könnte ein Filmtitel aus den 80ern sein. Mit Marius
Müller-Westernhagen als Gomez. Und Ottfried Fischer als die zwei
Mann. Ist aber nur brotlose Kunst. Hat also nichts mit Ottfried
Fischer zu tun.
4.
Foul von de Jong. Im Mittelfeld. So
überraschend wie Post von Wagner. In der Bild.
5.
Kein schlechter Start hier. Viel los.
Würde mich jetzt über Unterstützung freuen. Aber Kollege
Gieselmann kann nicht, macht "in Aufstellungen." Ein Satz
wie man ihn sonst nur in Italien hört. Wetten, irgendjemand?
8.
Schüsse. Viele. Van Persie, Özil,
wieder van Persie. Namen. Viele. Gefühle. Viele.
10.
Van Persie hat Hummels im Arsch. Kann
trotzdem schießen. Respekt.
12.
»Sharp«, schreibt die Bande –
scharf. Da ist sie aber noch zurückhaltend. Was muss geschehen,
damit sie das Spiel »hot« findet. Und seit wann sprechen Banden zu
uns?
13.
Özil hat sich, gleich nach seinem
"Huf" (Paul Schockemöhle) über seine weit augerissenen
Hans-Rosenthal-Augenpartie gewischt. Schade, sagten diese Augen.
Egal, sagen wir, das war Spitze! Ein Lob aus einem Land vor unserer
Zeit.
14.
So weit hat Robben es also mit seinem
Eigensinn getrieben: Jetzt wollen sie noch nicht mal mehr seine
Einwürfe entgegennehmen.
15.
Hup Holland Hup! Ich kann es nicht mehr
hören! Nicht hupen – Fahrer träumt vom Sieg für Deutschland!
17.
Van Persie. Vor dem hab ich Angst wie
früher vor den französischen Austauschschülern: Die wollten mir
auch immer was wegnehmen, Mädchen, Status im Freibad, servile
Bewunderer. Wenn er auf dem Platz raucht, verpetze ich ihn.
19.
"Robben, van der Wiel. Robben, van
der Wiel", sagt Rethy immer wieder. Was sich ja tatsächlich so
anhört, als würde er einen Nachmittag im Sea World Rotterdam
kommentieren, oder unaufhörlich den Namen eines niederländischen
Minnesänger aus dem 16. Jahrhundert vor sich hinmurmeln. Beides
spräche nicht für seine geistige Gesundheit. Aber es ist ja auch
heiß dort in Charkiw.
20.
Der Beweis: Löw ist doch kein
Gutmensch! Schlägt einem hilflosen Balljungen einfach den Ball aus
der Hand, lacht dann auch noch gehässig. Der Generalablass für uns
Otto-Normal-Arschlöcher. Hätte er dem Kind jetzt noch einen Popel
an die Stirn geschmiert, könnte ich morgen beim Kaiser's eine Oma
mit Mettwurst einseifen und niemand würde daran Anstoß nehmen.
Wahrscheinlich würde die Oma sogar sagen: "Ja, mei. Der Jogi
macht's ja auch." Högschd fragwürdig.
20.
Badstuber gegen Robben, Stirn gegen
Hinterkopf. Robben blutet, Badstuber nicht. »Wieso bleibt da jetzt
nur einer liegen?«, fragt eine anwesende Gelegenheitszuschauerin.
»Hinten tut's mehr weh als vorne«, erkläre ich. Altherrenhaftes
»Höhöhöhö« der Kenner im Raume. Achso. Ja. So kann man's auch
sehen. Ich mit roter Birne. Das ich das noch erleben darf.
24.
TOR! ICH LIEG MICH WUND!
25.
Gomez, der »Wundlieger«
(Fußball-»Experte« Mehmet Scholl), er legt tatsächlich die
Holländer wund, er legt meine Augen wund, denn ich kann mich nicht
satt sehen! Welch ein Tor! Pass Schweini! Und dann die Drehung! Wie
von Rudolf Nurejew! »Und der Rudi«, sagte Beckenbauer, »war ja von
einer anderen Fakultät.« Wie auch dieses Tor. Von einer anderen
Fakultät auf einem anderen Planeten, den sich ein anderes Gehirn
vorstellt als meines. 1:0. Das heißt, wir führen mit acht Toren.
Oder?
28.
Sorry, Freunde. Lange nichts mehr von
mir gehört. Normal. Ich war eben kurz drüben in Holland, um im
Vorgarten von Ronald Koeman meinen Arsch zu entblößen. Schöne
Grüße!
29.
Gomez lächelt. Das Lächeln des
Schlandes. Das Schland des Lächelns.
31.
Chance vorhin für uns, irgendwie
halbgar. Soll ich das überhaupt noch erwähnen? Ich möchte mit
euch, liebe Fans, eigentlich nur noch über Kunst reden, Ballett,
Malerei, Gomez. Wer hat Lust, ihn mit mir in Stein zu meißeln?
Morgen halb elf an der Volkshochschule Clausthal-Zellerfeld.
32.
Alles großartig hier. Schwarzrotgeil
und so. Gomez großartig, Löws Intuition großartig, Zwischenstand
großartig. Nur, denkt hier auch jemand mal an Miroslav Klose. Der
sitzt dort draußen, mit einem lachenden und einem, tatsächlich,
weinenden, weil blutunterlaufenen Auge. Und muss nun durch den roten
Nebel mit ansehen, wie sich seine ehemalige Stammplatzgarantie Mario
Gomez in die Liga der Unverzichtbaren schießt. Und das bei dem
Turnier in der Heimat seiner Eltern. Wie wird er reagieren?
Klatschen, weil er ja auch das Fairplay in Menschenform ist. Oder
weinen, weil er auch das Sensible in Menschengestalt ist. Oder er
macht, Übersprungshandlung, einen inneren Salto aus dem Stand. Den
traurigsten Salto aller Zeiten.
35.
Chance Badstuber, was Martin Kree mit
dem Fuß tat, tut er mit dem Kopf, doch gehalten. Was Erstaunliches
zu Tage fördert: Wenn er enttäuscht ist, sieht er aus wie
Mertesacker.
38.
TOOOOOOOOOOOOOOOOOOR! DAS TOOOOOOOOOOOR
ZUM HIMMEL!
39.
Und schon wieder der David von
Michelangelo Löw! Mario Gomez, Statue, Gott, der beste Mensch aller
Zeiten, trifft aus spitzem Winkel, Vorlage von Schweinsteiger, der
bitte jetzt nicht mehr so heißt, sondern Gottsteiger. Denn nicht
vergessen in dieser Stunde: Wir stehen auf den Schultern von Göttern
– Netzer, Schuster, Sammer. Lasst uns ihnen diesen Titel bringen.
Und Mehmet Scholl muss von der Hölle aus zugucken.
41.
Ich habe es ja gesagt: Die liegen uns,
die Holländer. Aber vor allem liegen sie Mario Gomez, bei dem man
sehen kann, was Selbstbewusstsein aus einem Stürmer machen kann. Und
auch, was ein Stürmer dann, gegen eine Mannschaft, die ihm liegt,
aus diesem Selbstbewusstsein machen kann. Ich lege mich aber auch
fest: 70 Prozent des zweiten Tores gehören Mehmet Scholl.
43.
Gegen wen spielen wir hier noch mal?
Hessen Kassel? Wenn ja: Seit wann werden die von einer
Orangensaftfirma gesponsert?
45.
Was macht Robben? Fern ab vom Ball
versucht er, mit Philipp Lahm zu schmusen. Der tut so, als kenne er
ihn nicht. »Ich gebe keine Autogramme, Sie Arsch.« – »Aber wir
duzen uns doch.«
47.
Jetzt Robben doch im Zentrum des
Geschehens: Schweinsteiger mit dem Freistoß, »Ich will auch wieder
mitmachen!«, schreit Robben, geht in diese Flanke mit dem Schädel,
lenkt den Ball aufs Tor, rauft sich den Flaum. Keine Ecke.
Bezeichnend. Stattdessen Halbzeit. Und der Schiri versucht, sein
Trikot mit Gomez zu tauschen. Verständlich.
21:34 Uhr
Die Nachrichten. Moderiert von Maybrit
Illner, die sich als Mario Gomez verkleidet hat. Sie redet
ausnahmslos von Gomez. Lieblingsspeise, Lieblingsplatten,
Lieblingsfilme. Und ich habe noch nie etwas derart Spannendes
gesehen.
21:40 Uhr
Nun die Lottozahlen. Sie lauten. 2 zu
0. Zusatzzahl: 23. Reicht. Ganz Deutschland ist Millionär. Zumindest
für heute Abend. Herzlichen Glückwunsch.
21:43 Uhr
Erstaunlich, wie erträglich selbst
Rethy wird, wenn man sich ohnehin schon freut. Bin ich jetzt Modefan?
21:45 Uhr
Anruf bei Mehmet Scholl. Freizeichen,
dann: »Hier Mehmet Schmoll!« Verwählt.
21:45 Uhr
Und nun muss Kahn auch noch "was
zu Mario Gomez sagen", findet Kathrin Müller-Hohenstein. Kahn
sagt dann irgendwas über dessen brasilianische Technik. Geht aber
alles im Heringsdorfer Jubel unter. Jubelrentner, ist auch mal was
Neues. Ein Blick auf die Burberry-Klamotten aber offenbart: Die haben
auch alle einen Perser zu Hause. Bodenbelag sponsored by Niebel.
21:46 Uhr
Huntelaar kommt. Der Hunter. Aber wen
soll er jagen? Etwa Gomez? Das ist, als wollte ein Wiesel einen
Elefanten anfallen.
46.
"Wer soll die Niederländer jetzt
noch führen, ich weiß es nicht", fragt sich Kahn im Interview
mit sich selbst. Antwort: Erstmal niemand. Deutschland stößt an.
47.
Holland braucht jetzt vor allem einen
Leader. Und: Aggressivität. Van Marwijk aber nimmt erstmal van
Bommel runter. Holland also jetzt mit umgekehrter Psychologie. Wenn's
hilft.
48.
Die Bayern. Wenn ich nur wüsste, wie
die Mehrzahl von Phoenix ist. Phoenixe? Phoenen? Egal: aus der Asche!
Schweinsteiger – genial wie Wolfgang Amadeus Mozart. Müller –
juvenil wie Billy the Kid. Gomez – cool wie Miles Davis. Lahm –
zuverlässig wie Tom Buhrow. Der letzte Vergleich war nicht
glamourös, schon klar. Aber hey: Was wären wir ohne Tom Buhrow?
Eben
50.
Gomez nun dort, wo die Niederländer
längst sind. Am Boden. Die Pantomime einer falsch interpretierten
Völkerverständigung.
51.
Hummels, Hummels! Taucht jetzt vorn
auf, wie auch Spaniens Piqué es immer mit brachialer Verdrängung
tut, bloß skalpellartig präzise, schneidet tief ins Fleisch der
niederländischen Abwehr. Mats' cut is the deepest.
54.
Wohnwagen zu Hohnwagen!
55.
Rethy hat nun den Fehler im System der
Holländer gefunden: "Sie verkörpern zwei Mannschaften in
einer. Sechs Spieler kümmern sich um die Defensive, vier um den
Aufbau. Und dann ist da noch van der Vaart als Schaltstation."
Aha. Heißt also demnach: Holland spielt zu Zwölft aber ohne Sturm.
Das Negativ des Fußball Totaal. Unschön. Unschöner nur, dass es
Rethy als erstem aufgefallen ist. Ähnlich unschön, als würde man
gegen den Klassenstreber bei Cluedo verlieren.
57.
Wie sehr Angela Merkel wohl ihren
Boykott bereut? Den schweißnassen Heroen Schweinsteiger abbusseln,
noch ein paar perlen am Kostüm mit nach Hause nehmen: Das wäre Ihr
Preis gewesen, Kanzlerin! Stattdessen: ZDF-Gucken mit Ramsauer. Das
ist die Staatstrauer.
58.
Die Niederländer drücken, deshalb das
Spiel jetzt offener, findet Rethy. Eine Analyse wie ein Besuch beim
Proktologen. Und jetzt mal kurz husten, Bela!
63.
Mesut wie das Messer durch die
Buttermilch. Hmm, Buttermilch. Hmm, Özilch.
64.
Boateng spielt auch mit. Bisher
unauffällig, nicht zu sehen. Was das größte Lob für einen
Abwehrspieler ist. Kann man bis hierhin auch sagen, hatte seine
aufälligste Szene bei der Hymne. Wenn jetzt nicht noch Gina-Lisa
Lohfink eingewechselt wird, kann das hier auch sein Spiel werden.
65.
»Continental«, schreibt die Bande nun
auf sich selbst. Schon wieder untertrieben: Monumental müsste es
heißen.
67.
Deutschland gönne sich eine
»Verschnaufpause«, so Rethy nun. Das klingt nach Trimm-Dich-Pfad
und Rheumaliga. Ich fordere ein neues Vokabular: Ätherische Phase,
Minuten des Innehaltens – sie gedenken, dass sie sterblich sind.
70.
Schürrle, Kroos und Klose laufen sich
warm. Das ist, rein namentlich, der SPD-Vorstand der frühen
Neunziger. Ohne Scharping.
69.
Rethy ist geradezu ekelhaft überzeugt
davon, dass hier nichts mehr passiert. Mit der Führung im Rücken
spielt er sich jetzt auf, als hätte er beide Tore erzielt und sei
zudem des Hellsehens fähig. Das Erste stimmt in keinem Fall. Das
Zweite können wir nicht beurteilen. Sollte er aber tatsächlich in
die Zukunft schauen können, sieht es nicht gut aus für uns. Denn
dann kennt er all seine noch kommenden Reportagen bereits jetzt. Und
wird nie wieder zu sprechen aufhören.
70.
Die erste Jahrhundertchance dieses noch
so jungen Turniers. Robben im Strafraum. Macht, was er immer macht.
Zieht mit links ab. Aber Boateng, der Jesus der Grätsche wirft sich
mit seinem Körper in diesen Schuss, wie er sich zuletzt nur in die
Peinlichkeiten des Boulevards geworfen hat. Klärt den Ball mit der
Rippe zur Ecke. Bleibt dann liegen. Hält sich die Rippe, aus der ihm
der Fußballgott nach dem Spiel eine Frau schnitzen wird. Damit er
nie wieder nachts nach Köpenick fahren muss.
72.
Konter. Ich schaue mir das ganz genau
an, denn ich werde einige Konterbiere brauchen morgen früh. Und dann
geht Gomez, den man hoffentlich sofort in Eselsmilch badet und ihm in
Riedlingen eine Pyramide baut.
74.
Tor. Ein gewisser van Persie. Durch
Badstubers Badstube. Gut gemacht. Kann kein Holländer sein. Nur noch
2:1. Ein Zwischenergebnis, das so wenig repräsentativ ist wie eine
Straßenumfrage in der Fuzo von Marzahn.
75.
Özil gegen irgendeinen Schnözil,
vorbei, noch mal vorbei, will schießen, kann nicht, »korrekt vom
Ball getrennt«, buchhaltert Rethy. Korrekt! Pah!
76.
Isch gib disch gleisch korrrrekt, Alda:
Mesut schlägt zurück. Foult einen Holländer aus seinem Ghetto.
78.
Hektik, Hektik, Hektik. Ich atme wie
ein gerade geborener Welpe. Jetzt müsste einer kommen wie so'n
40-jähriger Bauer bei den Alten Herren, der einfach mal sagt:
»Ruuuuuuuuuuuuuuhig!« Es kommt Kroos. Kann der überhaupt schon
sprechen?
80.
Ja, er spricht. »Gegen wen spielen
wir?«, fragt er Schweini. Auch 'ne Art von Coolness.
82.
Es ist das hier nun eine Schlacht.
Wütende Angriffe der Niederlande, großes Konfuzius-Theater in der
deutschen Abwehr. Aber immerhin: Endlich ist hier wieder die Hitze
drin, die man von dieser Paarung erwarten kann. Das war nach dem 2:0
zuvor schon so harmonisch still, dass wir kurz davor standen, uns
selbst in die Locken zu roten. Damit wir zumindest irgendetwas
spüren, as sich nach Deutschland-Holland anfühlt.
83.
Kuyt kommt, Robben geht, nein, er geht
nicht, er rennt, springt über die Bande, seine tödlichen Blicke auf
van Marwijk präziser als seine letzten zwanzig Elfmeter.
85.
Wir wollen den Holländern nicht zu
nahe treten. sagen deshalb aus einigem journalistischen Abstand:
Einige unter ihnen sehen schon aus wie die Jungs, die mit
Autoscootern oder anderen Fahrgeschäften durch die Provinz tingeln.
Wie die Dänen aus Bang Boom Bang oder die New Kids, nachdem sie sich
den Schnauzer und die Vokuhila abrasiert haben. Kuyt nun mit dem
nächsten Angriff. Genau: Und dann noch eine Runde über Kopf. Und im
Hintergrund dröhnt Snap!
86.
Sneijder, der blasse Brasilianer. Macht
jetzt auch mal was. Schuss. Aha. So fühlt sich Angst an. Ganz
vergessen. Danke dafür, blasser Brasilianer.
88.
Zeichen, wie integriert Boateng ist:
Rethy nennt ihn »Boatenk«. Wir aber nennen ihn »Boah-Ey-Tank«.
89.
Löw ist erschöpft von seinen
Kommandos, erfindet Rethy jetzt einen nicht nachzuweisenden
Gemütszustand des Bundestrainers. Ersetzt man allerdings "Löw"
durch "der Zuschauer" und "seinen Kommandos"
durch "meinen Kommentaren", dann ist es eine so kaum zu
erwartende Selbstanalyse Rethys. Ersetzt man nun noch Rethy durch
Nichts, ist auch niemand mehr erschöpft.
90.
Stekelenburg macht will nicht mehr,
kann nicht mehr, gibt Klose einfach den Ball, da, nimm ihn, erlöse
mich, aber Klose, der Bescheidene, lehnt ab, es wäre auch affig
gewesen: wir wollen die Gomez-Tore in Erinnerung behalten, keine
Gummibälle, die holländischen Dauercampern aus dem Wohnwagen
kullern. Gut so, Miro, dein Tor wird kommen!
91.
Löw bringt nun Bender. Den Mann, der
bekanntlich 17 Kilometer pro Halbzeit laufen kann. Den Marathon-Mann.
Spekuliert der Bundestrainer auf Verlängerung?
93.
Pfeif ab, Junge, pfeif ab. Wir wissen,
du komponierst den Schlusspfiff noch, er soll was Besonderes sein,
aber ein einfaches, scharfes »Piiiiiiep« reicht, wäre das Schönste
jetzt, und da ist es, »Piiiiiiep«, »Piiiiiiep«, »Piiiiiiep«,
ich hab Schland lieb.
22:37 Uhr
Deutschland 6 Punkte, Niederlande 0 –
dennoch haben die Statistiker einen Witz für uns parat: Unter
Voraussetzungen, die in etwa so klingen, als müsste Eddy the Eagle
das olympische Schanzenspringen gewinnen, kann Deutschland noch
rausfliegen und können die Niederlande weiterkommen. Egal, ihr
Nerds. Feuerwerk über Berlin. Auf einer Rakete reitet Cacau vorbei.
Winkt. Wäre gern dabei gewesen. Aber jetzt macht er das Beste draus.
Feiner Kerl. Guten Flug noch, Cacau. Guten Flug noch, Deutschland.
22:39 Uhr.
Rethy schmeißt den ersten seiner nun
folgenden Schluss-Sätze in die Freude nach dem Pfiff: "Deutschland
zittert sich hier zum Sieg." In der Hitze von Charkiw ist das
ein kühnes Bild. Wobei mich Rethy sofort frösteln lässt. Er kann
es immer noch: Mit wenigen Worten die Hölle zufrieren lassen. Wenn
jetzt in Usedom die Wellen vereist sind, dann kann Roland Emmerich
Rethys Biographie verfilmen, Arbeitstitel: "Blindependance Day".
22:42 Uhr
Gomez im Interview über den Druck vor
dem Spiel: »Es waren ein paar Kilo auf den Schultern.« Aber Scholl
wiegt doch höchstens 51.
22:43 Uhr
Boateng, der wie immer so
zerbrechlich-bockig klingt, wie ein Achtjähriger, der nicht
wahrhaben will, dass er für seine zehn Cent keine Mickey Maus
kriegt: »Und dann und dann und dann und dann und dann und dann ist
das Wichtigste, dass wir gewonnen haben.« Welch ein schüchterner,
dünnhäutiger Junge, der sich hier immer wieder für uns mit den
Eiern zuerst in die Schüsse wirft. Ich muss weinen. Ganz im Ernst.
22:48 Uhr
Schweinsteiger im Interview, nur noch
Haut und Knochen, wischt sich über die Wange, hört nicht, was er
sagt, spult ab, sagt dann: »Bitte!« Haben wir überhaupt schon
Danke gesagt?
22:50 Uhr
Van Bommel sieht aus wie Boris Spasky,
nachdem er von Bobby Fischer besiegt wurde. Dann, in einer
Wiederholung, die eigentlich schönste Szene des Spiels: Schweini
tröstet ihn, hält ihn minutenlang, lässt ihn gar nicht mehr los.
Man müsste es, wiederum, in Stein meißeln.
22:55 Uhr
Kathrin Müller-Hohenstein, die sich in
der emotionalen Eiswüste auf Usedom die alte Skisprungexperten-Jacke
von Dieter Thoma übergezogen hat, holt jetzt einen von ihr selbst
verfassten Almanach (Poesiealbum mit Diddle-Motiv) aus der Tasche und
lässt uns wissen. "Jetzt hat die deutsche Nationalmannschaft
das zweite Spiel in einem Turnier gewonnen - Das gab es noch nie!"
Kahn sagt erstmal lieber nichts. Schweigt. Sagt dann aber noch: "Die
Mannschaft hat viele Lehren aus dem letzten Spiel mitgebracht."
Stimmt. Bleibt für uns nur festzuhalten: Das ZDF hat aus dem letzten
Turnier überhaupt keine Lehren mitgebracht. Nur Leere. Eine Leere in
Skisprungjacke.
23:00 Uhr
In Usedom gehen die Lichter aus, in
Berlin aber "ist die Party noch lange nicht vorbei" wie uns
die ZDF-Fanmeilen-Reporterin wissen lässt. Dort auf dem 17. Juni
stand früher mal Anne Will und führte Interviews mit nicht nur von
Liebe zugedröhnten Ravern. Ach, damals. Wie die Zeit vergeht.
Allerdings wäre es damals, in den DR. Motte Jahren, nahezu
ausgeschlossen gewesen, dass eine deutsche Nationalmannschaft die
Niederländer aus dem Weg räumt. So aber war es in diesem Heute in
Charkiw, dem Gomez-Heute, ein Sieg wie in Stein gemeißelt. Und auch
wir machen die Lichter aus und uns auf die Suche nach dem Schland des
Lächelns, der Party, die "noch lange nicht vorbei" ist.
Vorbei, ein dummes Wort! Aber auch das macht uns nicht. Tanzen wir
mit der Dummheit. Vielleicht kommt Anne Will vorbei, bzw. "vorbei".
Vorbei auch wir. Gute Nacht!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen