13 Juni 2012

D - NED 2:1

Auszug aus dem köstlichen Liveblog der 11Freunde-Redaktion:


19:58 Uhr
O Gott. Ich habe vor der ZDF-Insel so viel Angst wie ein weiblich aussehender Straftäter vor Alcatraz. Hat Kahn eigentlich lebenslänglich?

20:11 Uhr
Hier ist, ohne Witz, gerade eine Frau in einer orangefarbenen Burka vorbeigelaufen. Lässt das ZDF jetzt Thilo Sarrazin einfliegen?

20:21 Uhr
Es ist ein gespenstischer Kult: Wie konnte ich als Kind, vor 25 Jahren, mit Figürchen spielen, die aussahen wie der heutige Bundestrainer? Bin ich etwa Azteke? O großer Playmobil, ich bete dich an! Nimm das Blut dieser Ziege!

20:32 Uhr
Die KMH sieht, vor dem Meer, in ihrem Astronautenanzug, aus wie Charlton Heston in »Planet der Affen«. Ist Kahn die in den Sand gestürzte Freiheitsstatue?

20:34 Uhr
Kahn tippt »ein ganz klares 2:1«. Und die Rentner auf der Geronto-Insel machen: »Jööööööh!« Was sie halt immer machen, wenn irgendwer was sagt. Warum bloß hat er sie nicht gefragt, ob sie mit ihm untergehen wollen?

20:37 Uhr
Manuel Neuer steht der Schweiß auf der Stirn. Schaut sich leicht angewidert auf die Hände. Sieht aus wie ein Schlachter, der eine halbe Stunde lang die Kuh nicht tot gekriegt hat. Und der könnte er ja tatsächlich auch sein, wenn er nicht so hoch und weit springen würde. Fußball, du soziales Vehikel! Warum hast du mich nicht mitgenommen, als ich den Daumen rausgehalten habe?

20:41 Uhr
Die Hymnen. Stimmung wie in Taizé. Wenn der Fußballgott das noch erlebt hätte!

20:42 Uhr
Klar ist leider jetzt schon: Deutschland ist chancenlos, weil numerisch hoffnungslos überlegen. Schließlich erreichten uns aus Charkiw gerade schockierende Bilder. Dort auf dem Platz tanzten hier, wenige Minuten vor dem Anpfiff gut fünfzig Holländer über den Rasen. Dehnten sich synchron. Löws Jungs aber sind immer noch zu elft. Wie sagt man so schön: Die Zahlen sprechen gegen uns.

20:43 Uhr
Es ist weihevoll, es ist fantastisch, es ist ein Alptraum, ich fühle mich todesnah. Und Rethy labert, labert, labert, labert. So will ich nicht sterben.

1. Minute
Spiel läuft. Und hört sich gleich nach dem Jahreskongress der Unsympathen an: "Nigel de Jong, Van Bommel", sagt Rethy, der diese Veranstaltung natürlich mitorganisiert hat.

3.
"Gomez gegen zwei Mann". Könnte ein Filmtitel aus den 80ern sein. Mit Marius Müller-Westernhagen als Gomez. Und Ottfried Fischer als die zwei Mann. Ist aber nur brotlose Kunst. Hat also nichts mit Ottfried Fischer zu tun.

4.
Foul von de Jong. Im Mittelfeld. So überraschend wie Post von Wagner. In der Bild.

5.
Kein schlechter Start hier. Viel los. Würde mich jetzt über Unterstützung freuen. Aber Kollege Gieselmann kann nicht, macht "in Aufstellungen." Ein Satz wie man ihn sonst nur in Italien hört. Wetten, irgendjemand?

8.
Schüsse. Viele. Van Persie, Özil, wieder van Persie. Namen. Viele. Gefühle. Viele.

10.
Van Persie hat Hummels im Arsch. Kann trotzdem schießen. Respekt.

12.
»Sharp«, schreibt die Bande – scharf. Da ist sie aber noch zurückhaltend. Was muss geschehen, damit sie das Spiel »hot« findet. Und seit wann sprechen Banden zu uns?

13.
Özil hat sich, gleich nach seinem "Huf" (Paul Schockemöhle) über seine weit augerissenen Hans-Rosenthal-Augenpartie gewischt. Schade, sagten diese Augen. Egal, sagen wir, das war Spitze! Ein Lob aus einem Land vor unserer Zeit.

14.
So weit hat Robben es also mit seinem Eigensinn getrieben: Jetzt wollen sie noch nicht mal mehr seine Einwürfe entgegennehmen.

15.
Hup Holland Hup! Ich kann es nicht mehr hören! Nicht hupen – Fahrer träumt vom Sieg für Deutschland!

17.
Van Persie. Vor dem hab ich Angst wie früher vor den französischen Austauschschülern: Die wollten mir auch immer was wegnehmen, Mädchen, Status im Freibad, servile Bewunderer. Wenn er auf dem Platz raucht, verpetze ich ihn.

19.
"Robben, van der Wiel. Robben, van der Wiel", sagt Rethy immer wieder. Was sich ja tatsächlich so anhört, als würde er einen Nachmittag im Sea World Rotterdam kommentieren, oder unaufhörlich den Namen eines niederländischen Minnesänger aus dem 16. Jahrhundert vor sich hinmurmeln. Beides spräche nicht für seine geistige Gesundheit. Aber es ist ja auch heiß dort in Charkiw.

20.
Der Beweis: Löw ist doch kein Gutmensch! Schlägt einem hilflosen Balljungen einfach den Ball aus der Hand, lacht dann auch noch gehässig. Der Generalablass für uns Otto-Normal-Arschlöcher. Hätte er dem Kind jetzt noch einen Popel an die Stirn geschmiert, könnte ich morgen beim Kaiser's eine Oma mit Mettwurst einseifen und niemand würde daran Anstoß nehmen. Wahrscheinlich würde die Oma sogar sagen: "Ja, mei. Der Jogi macht's ja auch." Högschd fragwürdig.

20.
Badstuber gegen Robben, Stirn gegen Hinterkopf. Robben blutet, Badstuber nicht. »Wieso bleibt da jetzt nur einer liegen?«, fragt eine anwesende Gelegenheitszuschauerin. »Hinten tut's mehr weh als vorne«, erkläre ich. Altherrenhaftes »Höhöhöhö« der Kenner im Raume. Achso. Ja. So kann man's auch sehen. Ich mit roter Birne. Das ich das noch erleben darf.


24.
TOR! ICH LIEG MICH WUND!

25.
Gomez, der »Wundlieger« (Fußball-»Experte« Mehmet Scholl), er legt tatsächlich die Holländer wund, er legt meine Augen wund, denn ich kann mich nicht satt sehen! Welch ein Tor! Pass Schweini! Und dann die Drehung! Wie von Rudolf Nurejew! »Und der Rudi«, sagte Beckenbauer, »war ja von einer anderen Fakultät.« Wie auch dieses Tor. Von einer anderen Fakultät auf einem anderen Planeten, den sich ein anderes Gehirn vorstellt als meines. 1:0. Das heißt, wir führen mit acht Toren. Oder?

28.
Sorry, Freunde. Lange nichts mehr von mir gehört. Normal. Ich war eben kurz drüben in Holland, um im Vorgarten von Ronald Koeman meinen Arsch zu entblößen. Schöne Grüße!

29.
Gomez lächelt. Das Lächeln des Schlandes. Das Schland des Lächelns.

31.
Chance vorhin für uns, irgendwie halbgar. Soll ich das überhaupt noch erwähnen? Ich möchte mit euch, liebe Fans, eigentlich nur noch über Kunst reden, Ballett, Malerei, Gomez. Wer hat Lust, ihn mit mir in Stein zu meißeln? Morgen halb elf an der Volkshochschule Clausthal-Zellerfeld.

32.
Alles großartig hier. Schwarzrotgeil und so. Gomez großartig, Löws Intuition großartig, Zwischenstand großartig. Nur, denkt hier auch jemand mal an Miroslav Klose. Der sitzt dort draußen, mit einem lachenden und einem, tatsächlich, weinenden, weil blutunterlaufenen Auge. Und muss nun durch den roten Nebel mit ansehen, wie sich seine ehemalige Stammplatzgarantie Mario Gomez in die Liga der Unverzichtbaren schießt. Und das bei dem Turnier in der Heimat seiner Eltern. Wie wird er reagieren? Klatschen, weil er ja auch das Fairplay in Menschenform ist. Oder weinen, weil er auch das Sensible in Menschengestalt ist. Oder er macht, Übersprungshandlung, einen inneren Salto aus dem Stand. Den traurigsten Salto aller Zeiten.

35.
Chance Badstuber, was Martin Kree mit dem Fuß tat, tut er mit dem Kopf, doch gehalten. Was Erstaunliches zu Tage fördert: Wenn er enttäuscht ist, sieht er aus wie Mertesacker.

38.
TOOOOOOOOOOOOOOOOOOR! DAS TOOOOOOOOOOOR ZUM HIMMEL!

39.
Und schon wieder der David von Michelangelo Löw! Mario Gomez, Statue, Gott, der beste Mensch aller Zeiten, trifft aus spitzem Winkel, Vorlage von Schweinsteiger, der bitte jetzt nicht mehr so heißt, sondern Gottsteiger. Denn nicht vergessen in dieser Stunde: Wir stehen auf den Schultern von Göttern – Netzer, Schuster, Sammer. Lasst uns ihnen diesen Titel bringen. Und Mehmet Scholl muss von der Hölle aus zugucken.

41.
Ich habe es ja gesagt: Die liegen uns, die Holländer. Aber vor allem liegen sie Mario Gomez, bei dem man sehen kann, was Selbstbewusstsein aus einem Stürmer machen kann. Und auch, was ein Stürmer dann, gegen eine Mannschaft, die ihm liegt, aus diesem Selbstbewusstsein machen kann. Ich lege mich aber auch fest: 70 Prozent des zweiten Tores gehören Mehmet Scholl.

43.
Gegen wen spielen wir hier noch mal? Hessen Kassel? Wenn ja: Seit wann werden die von einer Orangensaftfirma gesponsert?

45.
Was macht Robben? Fern ab vom Ball versucht er, mit Philipp Lahm zu schmusen. Der tut so, als kenne er ihn nicht. »Ich gebe keine Autogramme, Sie Arsch.« – »Aber wir duzen uns doch.«

47.
Jetzt Robben doch im Zentrum des Geschehens: Schweinsteiger mit dem Freistoß, »Ich will auch wieder mitmachen!«, schreit Robben, geht in diese Flanke mit dem Schädel, lenkt den Ball aufs Tor, rauft sich den Flaum. Keine Ecke. Bezeichnend. Stattdessen Halbzeit. Und der Schiri versucht, sein Trikot mit Gomez zu tauschen. Verständlich.

21:34 Uhr
Die Nachrichten. Moderiert von Maybrit Illner, die sich als Mario Gomez verkleidet hat. Sie redet ausnahmslos von Gomez. Lieblingsspeise, Lieblingsplatten, Lieblingsfilme. Und ich habe noch nie etwas derart Spannendes gesehen.

21:40 Uhr
Nun die Lottozahlen. Sie lauten. 2 zu 0. Zusatzzahl: 23. Reicht. Ganz Deutschland ist Millionär. Zumindest für heute Abend. Herzlichen Glückwunsch.

21:43 Uhr
Erstaunlich, wie erträglich selbst Rethy wird, wenn man sich ohnehin schon freut. Bin ich jetzt Modefan?

21:45 Uhr
Anruf bei Mehmet Scholl. Freizeichen, dann: »Hier Mehmet Schmoll!« Verwählt.

21:45 Uhr
Und nun muss Kahn auch noch "was zu Mario Gomez sagen", findet Kathrin Müller-Hohenstein. Kahn sagt dann irgendwas über dessen brasilianische Technik. Geht aber alles im Heringsdorfer Jubel unter. Jubelrentner, ist auch mal was Neues. Ein Blick auf die Burberry-Klamotten aber offenbart: Die haben auch alle einen Perser zu Hause. Bodenbelag sponsored by Niebel.

21:46 Uhr
Huntelaar kommt. Der Hunter. Aber wen soll er jagen? Etwa Gomez? Das ist, als wollte ein Wiesel einen Elefanten anfallen.

46.
"Wer soll die Niederländer jetzt noch führen, ich weiß es nicht", fragt sich Kahn im Interview mit sich selbst. Antwort: Erstmal niemand. Deutschland stößt an.

47.
Holland braucht jetzt vor allem einen Leader. Und: Aggressivität. Van Marwijk aber nimmt erstmal van Bommel runter. Holland also jetzt mit umgekehrter Psychologie. Wenn's hilft.

48.
Die Bayern. Wenn ich nur wüsste, wie die Mehrzahl von Phoenix ist. Phoenixe? Phoenen? Egal: aus der Asche! Schweinsteiger – genial wie Wolfgang Amadeus Mozart. Müller – juvenil wie Billy the Kid. Gomez – cool wie Miles Davis. Lahm – zuverlässig wie Tom Buhrow. Der letzte Vergleich war nicht glamourös, schon klar. Aber hey: Was wären wir ohne Tom Buhrow? Eben

50.
Gomez nun dort, wo die Niederländer längst sind. Am Boden. Die Pantomime einer falsch interpretierten Völkerverständigung.

51.
Hummels, Hummels! Taucht jetzt vorn auf, wie auch Spaniens Piqué es immer mit brachialer Verdrängung tut, bloß skalpellartig präzise, schneidet tief ins Fleisch der niederländischen Abwehr. Mats' cut is the deepest.

54.
Wohnwagen zu Hohnwagen!

55.
Rethy hat nun den Fehler im System der Holländer gefunden: "Sie verkörpern zwei Mannschaften in einer. Sechs Spieler kümmern sich um die Defensive, vier um den Aufbau. Und dann ist da noch van der Vaart als Schaltstation." Aha. Heißt also demnach: Holland spielt zu Zwölft aber ohne Sturm. Das Negativ des Fußball Totaal. Unschön. Unschöner nur, dass es Rethy als erstem aufgefallen ist. Ähnlich unschön, als würde man gegen den Klassenstreber bei Cluedo verlieren.

57.
Wie sehr Angela Merkel wohl ihren Boykott bereut? Den schweißnassen Heroen Schweinsteiger abbusseln, noch ein paar perlen am Kostüm mit nach Hause nehmen: Das wäre Ihr Preis gewesen, Kanzlerin! Stattdessen: ZDF-Gucken mit Ramsauer. Das ist die Staatstrauer.

58.
Die Niederländer drücken, deshalb das Spiel jetzt offener, findet Rethy. Eine Analyse wie ein Besuch beim Proktologen. Und jetzt mal kurz husten, Bela!

63.
Mesut wie das Messer durch die Buttermilch. Hmm, Buttermilch. Hmm, Özilch.

64.
Boateng spielt auch mit. Bisher unauffällig, nicht zu sehen. Was das größte Lob für einen Abwehrspieler ist. Kann man bis hierhin auch sagen, hatte seine aufälligste Szene bei der Hymne. Wenn jetzt nicht noch Gina-Lisa Lohfink eingewechselt wird, kann das hier auch sein Spiel werden.

65.
»Continental«, schreibt die Bande nun auf sich selbst. Schon wieder untertrieben: Monumental müsste es heißen.

67.
Deutschland gönne sich eine »Verschnaufpause«, so Rethy nun. Das klingt nach Trimm-Dich-Pfad und Rheumaliga. Ich fordere ein neues Vokabular: Ätherische Phase, Minuten des Innehaltens – sie gedenken, dass sie sterblich sind.

70.
Schürrle, Kroos und Klose laufen sich warm. Das ist, rein namentlich, der SPD-Vorstand der frühen Neunziger. Ohne Scharping.

69.
Rethy ist geradezu ekelhaft überzeugt davon, dass hier nichts mehr passiert. Mit der Führung im Rücken spielt er sich jetzt auf, als hätte er beide Tore erzielt und sei zudem des Hellsehens fähig. Das Erste stimmt in keinem Fall. Das Zweite können wir nicht beurteilen. Sollte er aber tatsächlich in die Zukunft schauen können, sieht es nicht gut aus für uns. Denn dann kennt er all seine noch kommenden Reportagen bereits jetzt. Und wird nie wieder zu sprechen aufhören.

70.
Die erste Jahrhundertchance dieses noch so jungen Turniers. Robben im Strafraum. Macht, was er immer macht. Zieht mit links ab. Aber Boateng, der Jesus der Grätsche wirft sich mit seinem Körper in diesen Schuss, wie er sich zuletzt nur in die Peinlichkeiten des Boulevards geworfen hat. Klärt den Ball mit der Rippe zur Ecke. Bleibt dann liegen. Hält sich die Rippe, aus der ihm der Fußballgott nach dem Spiel eine Frau schnitzen wird. Damit er nie wieder nachts nach Köpenick fahren muss.

72.
Konter. Ich schaue mir das ganz genau an, denn ich werde einige Konterbiere brauchen morgen früh. Und dann geht Gomez, den man hoffentlich sofort in Eselsmilch badet und ihm in Riedlingen eine Pyramide baut.

74.
Tor. Ein gewisser van Persie. Durch Badstubers Badstube. Gut gemacht. Kann kein Holländer sein. Nur noch 2:1. Ein Zwischenergebnis, das so wenig repräsentativ ist wie eine Straßenumfrage in der Fuzo von Marzahn.

75.
Özil gegen irgendeinen Schnözil, vorbei, noch mal vorbei, will schießen, kann nicht, »korrekt vom Ball getrennt«, buchhaltert Rethy. Korrekt! Pah!

76.
Isch gib disch gleisch korrrrekt, Alda: Mesut schlägt zurück. Foult einen Holländer aus seinem Ghetto.

78.
Hektik, Hektik, Hektik. Ich atme wie ein gerade geborener Welpe. Jetzt müsste einer kommen wie so'n 40-jähriger Bauer bei den Alten Herren, der einfach mal sagt: »Ruuuuuuuuuuuuuuhig!« Es kommt Kroos. Kann der überhaupt schon sprechen?

80.
Ja, er spricht. »Gegen wen spielen wir?«, fragt er Schweini. Auch 'ne Art von Coolness.

82.
Es ist das hier nun eine Schlacht. Wütende Angriffe der Niederlande, großes Konfuzius-Theater in der deutschen Abwehr. Aber immerhin: Endlich ist hier wieder die Hitze drin, die man von dieser Paarung erwarten kann. Das war nach dem 2:0 zuvor schon so harmonisch still, dass wir kurz davor standen, uns selbst in die Locken zu roten. Damit wir zumindest irgendetwas spüren, as sich nach Deutschland-Holland anfühlt.

83.
Kuyt kommt, Robben geht, nein, er geht nicht, er rennt, springt über die Bande, seine tödlichen Blicke auf van Marwijk präziser als seine letzten zwanzig Elfmeter.

85.
Wir wollen den Holländern nicht zu nahe treten. sagen deshalb aus einigem journalistischen Abstand: Einige unter ihnen sehen schon aus wie die Jungs, die mit Autoscootern oder anderen Fahrgeschäften durch die Provinz tingeln. Wie die Dänen aus Bang Boom Bang oder die New Kids, nachdem sie sich den Schnauzer und die Vokuhila abrasiert haben. Kuyt nun mit dem nächsten Angriff. Genau: Und dann noch eine Runde über Kopf. Und im Hintergrund dröhnt Snap!

86.
Sneijder, der blasse Brasilianer. Macht jetzt auch mal was. Schuss. Aha. So fühlt sich Angst an. Ganz vergessen. Danke dafür, blasser Brasilianer.

88.
Zeichen, wie integriert Boateng ist: Rethy nennt ihn »Boatenk«. Wir aber nennen ihn »Boah-Ey-Tank«.

89.
Löw ist erschöpft von seinen Kommandos, erfindet Rethy jetzt einen nicht nachzuweisenden Gemütszustand des Bundestrainers. Ersetzt man allerdings "Löw" durch "der Zuschauer" und "seinen Kommandos" durch "meinen Kommentaren", dann ist es eine so kaum zu erwartende Selbstanalyse Rethys. Ersetzt man nun noch Rethy durch Nichts, ist auch niemand mehr erschöpft.

90.
Stekelenburg macht will nicht mehr, kann nicht mehr, gibt Klose einfach den Ball, da, nimm ihn, erlöse mich, aber Klose, der Bescheidene, lehnt ab, es wäre auch affig gewesen: wir wollen die Gomez-Tore in Erinnerung behalten, keine Gummibälle, die holländischen Dauercampern aus dem Wohnwagen kullern. Gut so, Miro, dein Tor wird kommen!

91.
Löw bringt nun Bender. Den Mann, der bekanntlich 17 Kilometer pro Halbzeit laufen kann. Den Marathon-Mann. Spekuliert der Bundestrainer auf Verlängerung?

93.
Pfeif ab, Junge, pfeif ab. Wir wissen, du komponierst den Schlusspfiff noch, er soll was Besonderes sein, aber ein einfaches, scharfes »Piiiiiiep« reicht, wäre das Schönste jetzt, und da ist es, »Piiiiiiep«, »Piiiiiiep«, »Piiiiiiep«, ich hab Schland lieb.

22:37 Uhr
Deutschland 6 Punkte, Niederlande 0 – dennoch haben die Statistiker einen Witz für uns parat: Unter Voraussetzungen, die in etwa so klingen, als müsste Eddy the Eagle das olympische Schanzenspringen gewinnen, kann Deutschland noch rausfliegen und können die Niederlande weiterkommen. Egal, ihr Nerds. Feuerwerk über Berlin. Auf einer Rakete reitet Cacau vorbei. Winkt. Wäre gern dabei gewesen. Aber jetzt macht er das Beste draus. Feiner Kerl. Guten Flug noch, Cacau. Guten Flug noch, Deutschland.

22:39 Uhr.
Rethy schmeißt den ersten seiner nun folgenden Schluss-Sätze in die Freude nach dem Pfiff: "Deutschland zittert sich hier zum Sieg." In der Hitze von Charkiw ist das ein kühnes Bild. Wobei mich Rethy sofort frösteln lässt. Er kann es immer noch: Mit wenigen Worten die Hölle zufrieren lassen. Wenn jetzt in Usedom die Wellen vereist sind, dann kann Roland Emmerich Rethys Biographie verfilmen, Arbeitstitel: "Blindependance Day".

22:42 Uhr
Gomez im Interview über den Druck vor dem Spiel: »Es waren ein paar Kilo auf den Schultern.« Aber Scholl wiegt doch höchstens 51.

22:43 Uhr
Boateng, der wie immer so zerbrechlich-bockig klingt, wie ein Achtjähriger, der nicht wahrhaben will, dass er für seine zehn Cent keine Mickey Maus kriegt: »Und dann und dann und dann und dann und dann und dann ist das Wichtigste, dass wir gewonnen haben.« Welch ein schüchterner, dünnhäutiger Junge, der sich hier immer wieder für uns mit den Eiern zuerst in die Schüsse wirft. Ich muss weinen. Ganz im Ernst.

22:48 Uhr
Schweinsteiger im Interview, nur noch Haut und Knochen, wischt sich über die Wange, hört nicht, was er sagt, spult ab, sagt dann: »Bitte!« Haben wir überhaupt schon Danke gesagt?

22:50 Uhr
Van Bommel sieht aus wie Boris Spasky, nachdem er von Bobby Fischer besiegt wurde. Dann, in einer Wiederholung, die eigentlich schönste Szene des Spiels: Schweini tröstet ihn, hält ihn minutenlang, lässt ihn gar nicht mehr los. Man müsste es, wiederum, in Stein meißeln.

22:55 Uhr
Kathrin Müller-Hohenstein, die sich in der emotionalen Eiswüste auf Usedom die alte Skisprungexperten-Jacke von Dieter Thoma übergezogen hat, holt jetzt einen von ihr selbst verfassten Almanach (Poesiealbum mit Diddle-Motiv) aus der Tasche und lässt uns wissen. "Jetzt hat die deutsche Nationalmannschaft das zweite Spiel in einem Turnier gewonnen - Das gab es noch nie!" Kahn sagt erstmal lieber nichts. Schweigt. Sagt dann aber noch: "Die Mannschaft hat viele Lehren aus dem letzten Spiel mitgebracht." Stimmt. Bleibt für uns nur festzuhalten: Das ZDF hat aus dem letzten Turnier überhaupt keine Lehren mitgebracht. Nur Leere. Eine Leere in Skisprungjacke.

23:00 Uhr
In Usedom gehen die Lichter aus, in Berlin aber "ist die Party noch lange nicht vorbei" wie uns die ZDF-Fanmeilen-Reporterin wissen lässt. Dort auf dem 17. Juni stand früher mal Anne Will und führte Interviews mit nicht nur von Liebe zugedröhnten Ravern. Ach, damals. Wie die Zeit vergeht. Allerdings wäre es damals, in den DR. Motte Jahren, nahezu ausgeschlossen gewesen, dass eine deutsche Nationalmannschaft die Niederländer aus dem Weg räumt. So aber war es in diesem Heute in Charkiw, dem Gomez-Heute, ein Sieg wie in Stein gemeißelt. Und auch wir machen die Lichter aus und uns auf die Suche nach dem Schland des Lächelns, der Party, die "noch lange nicht vorbei" ist. Vorbei, ein dummes Wort! Aber auch das macht uns nicht. Tanzen wir mit der Dummheit. Vielleicht kommt Anne Will vorbei, bzw. "vorbei". Vorbei auch wir. Gute Nacht!

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